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„Achtung vor dem Leben“ – Gedanke zum Freitag

Kaan Orhon
13.11.2020

Bismillah

„Achtung vor dem Leben“ – Gedanke zum Freitag

Allah der Erhabene sagt in Seinem Buch in der sinngemäßen Übersetzung:

„Wer ein menschliches Wesen tötet, ohne (daß es) einen Mord (begangen) oder auf der Erde Unheil gestiftet (hat), so ist es, als ob er alle Menschen getötet hätte. Und wer es am Leben erhält, so ist es, als ob er alle Menschen am Leben erhält.“
((al-Maida:32))

Dieser gesegnete Vers aus der Offenbarung ist immer wieder zu lesen, wenn es um die Verurteilung von Terror, Gewalt und Mord geht, die im Namen des Islam begangen werden. Es soll damit das gewaltige Unrecht zum Ausdruck gebracht werden, dass der Täter mit einer solchen Tat begeht. Leider hat es in den letzten Jahren vor allem viel zu viele Gelegenheiten gegeben, zu denen dieser Vers in dieser Funktion gebraucht wurde und immer wieder zeigt sich, dass jene, die diese Verbrechen begehen oder diejenigen, die sie gutheißen, sich dadurch nicht abhalten lassen.

Und auch dass jene, die den Finger anklagend auf muslimische Menschen richten und Distanzierung und Verurteilung einfordern, sich nicht dadurch versöhnen lassen, dass man ihnen diesen Vers als plakatives Zeichen der Friedfertigkeit präsentiert. Es droht zu einem Ritual zu verkommen, dass man Verbrechern, die aus dem Zusammenhang gerissene Verse aus der Offenbarung als Rechtfertigung für ihre Untaten missbrauchen, ebenso kontextlos Verse oder auch Prophetenüberlieferungen entgegen schleudert.

Gewinnt, wer lauter schreit? Oder bleibt es dabei, zu hoffen, dass vor allem noch ungefestigte junge Menschen in schwierigen Lebensumständen, die solche vulgär-theologischen Schlagabtausche in den Medien, in der Moschee oder sogar in der eigenen Familie miterleben, sich schon für die richtige, die „gute“ Seite entscheiden werden? Das kann nicht der Anspruch sein, mit dem Gläubige, gleich ob Gelehrte oder engagierte „Laien“, die Worte unseres Schöpfers gebrauchen.

Wenn wir der gewaltigen Bedeutung des Verses – und dabei vor allem dem zu Unrecht oft geringer gewichteten Aspekt des ‚Leben erhaltens‘  - gerecht werden wollen, müssen wir in Sprache, Handlungen und Geisteshaltung zurück finden zu einer Kultur der Achtung des Lebens. Dazu gehört im Angesicht religiös verbrämten Terrors unmissverständlich zu sagen, dass Gewalt kein legitimes Mittel gesellschaftlicher Auseinandersetzung ist, ganz gleich zu welchem Zweck oder in welcher Frage.

Wir müssen von der Rhetorik des Kampfes abrücken

Dazu gehört aber auch, dass politische und gesellschaftliche Akteure, die beanspruchen, muslimische Menschen zu vertreten oder Gemeinden zu führen, verbal abrüsten. Man stößt unablässig in unterschiedlichen Kontexten auf eine ständige Rhetorik des Kampfes und der Bedrohung: „den Islam verteidigen“, „für den Islam kämpfen“ etc. und die entsprechende Wagenburgmentalität.

Wir täten gut daran, statt in Kategorien der permanenten Verteidigung lieber an Aufbau und Verständigung zu denken. Ebenso wie unter muslimischen so sind auch unter anders- und nichtgläubigen Menschen gewalttätige Extremisten eine verschwindend geringe Minderheit. Sie auch als solche zu begreifen heißt nicht, die Gefahr die von ihnen ausgeht auszublenden oder zu verschweigen. Aber man sollte der Auseinandersetzung mit ihnen nicht eine unverhältnismäßig beherrschende Rolle im eigenen Leben und auch in der Arbeit als muslimische Organisation oder Gemeinschaft einräumen.

Der Gesandte Gottes – Allahs Segen und Frieden auf ihm – führte in verschiedener Weise die Auseinandersetzung mit den Menschen, die ihm und seiner jungen Gemeinde feindlich gesinnt waren und mehr noch, die frühen Muslime grausam verfolgten und töteten. In letzter Konsequenz setzten sich der Prophet (s) und seine Gemeinschaft dabei auch militärisch zur Wehr. Eben dieser Umstand wird heute von mordenden Kulten als Rechtfertigung für ihr Tun herangezogen. Doch wie viel Raum und welchen Stellenwert im Leben des Propheten (s) nahm der Kampf ein? Wie viel von seiner 23-jährigen Prophetie entfiel auf die Auseinandersetzung mit den Verfolgern der frühen Gemeinde? Und welchen Stellenwert hatte dagegen die tägliche Sorge für seine Familie und für alle seine Mitmenschen? Welchen Stellenwert hatte Arbeit, sei es im Unternehmen seiner Frau, unserer Mutter Khadija, möge Allah der Erhabene Wohlgefallen an ihr haben oder im Haushalt? Vom Verrichten der Gebete und Gottesdienste ganz zu schweigen.

Es ist eine Kultur entstanden, die das „normale Leben“ den Alltag zur Gänze entwertet zu Gunsten eines allgegenwärtigen „Kampfes“. Der Kampf dominiert alles, sei er aktivistisch oder gewalttätig, wer sich nicht beteiligt, wer sich um Heim und Familie kümmert, wird mit Verachtung gestraft. Dieses Denken destilliert sich in einigen wenigen extremen Fällen hin zu eben jener Ideologie, die dazu führt, dass junge Menschen, die kaum der Kindheit entwachsen sind, glauben, für den Islam kämpfen zu müssen und die den Nervenkitzel des vermeintlichen „realen Videospiels“ auf den Schlachtfeldern ihnen fremder Länder dem „langweiligen“ Leben von Arbeit und Familie, von Hausarbeit und Kindererziehung vorziehen.

„Mit einem Knopfdruck ins Paradies“… so haben früher Gruppen, die diese Denkrichtung vertraten und ausnutzen, geworben. Alle Sünden und Fehler die man begangen hat, gleich vergeben und schon die Belohnungen des Gartens genießen; das erscheint attraktiver als 60, 70 Jahre lang ein „gewöhnliches“ Leben zu führen, zur Arbeit und in die Moschee zu gehen und im Alter vielleicht von Schwäche und Krankheit geplagt zu werden. Und doch ist es eben jedes einzelne dieser Leben, die zu erhalten unser Schöpfer uns so anrechnet, als hätten wir der ganzen Menschheit das Leben erhalten! Als hätten wir sprichwörtlich die Welt gerettet…

"Leben erhalten"

Ein Arzt oder eine Ärztin kann Leben erhalten. Ein(e) Mitarbeiter(in) in einem Projekt, das versucht, Jugendliche aus Extremismus und Gewalt heraus zu holen, kann Leben erhalten. Jeder von uns, dass hören wir in diesen Tagen immer wieder, kann durch verantwortungsvolles Verhalten in der Pandemie Leben erhalten, in dem wir unsere Mitmenschen im Rahmen unserer Möglichkeiten vor Ansteckung schützen.

Das Entscheidende ist, dass uns der Wert des menschlichen Lebens und die Bedeutung des ‚Leben-erhaltens‘ bewusst ist und dass dieses Bewusstsein all unser Handeln bestimmt. Das ist eines der wirkungsvollsten Mittel gegen die Ideologien des Todes.

In diesem Sinne wünscht Euch der RAMSA einen gesegneten Freitag und ein schönes Wochenende.