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"Ostturkestan"

Kaan Orhon
04.07.2015

Bismillah

Gedanke zum Freitag Heute von: Kaan Orhon, RAMSA-Vizepräsident und Islamwissenschaftler aus Göttingen

`A´ischa berichtete: „Die beliebteste (gute) Tat beim Gesandten Allahs, Allahs Segen und Friede auf ihm, war die, die von jemand dauerhaft begangen wurde.“ [Sahih Al-Bucharyy Nr. 6462]

Ähnlich wie es seit 2012 in unregelmäßigen Abständen mit den Rohingya in Burma geschieht, sind die Uiguren und ihr beklagenswertes Schicksal derzeit sehr präsent in sozialen Medien. Das dies nun der Fall ist, hat sicher in nicht unerheblichem Maße damit zu tun, dass wir uns im gesegneten Ramadan befinden. Der Monat der Freude für die meisten von uns ist der Monat, indem die Unterdrückung des muslimischen Turkvolkes seinen Höhepunkt erreicht. Die kommunistische Partei Chinas, die seit Jahrzehnten tatsächliche wie vermeintliche Unabhängigkeitsbestrebungen unter der einheimischen Bevölkerung Ostturkestans (chines. Xinjiang) gewaltsam unterdrückt, steigert ihre Repression im Fastenmonat stets in neue Extreme.

Teilen der Bevölkerung ist das Fasten unter Androhung heftiger Strafen verboten: Schüler, Studenten, Staatsbedienstete und andere müssen Erklärungen unterzeichnen, in denen sie versprechen, die grundlegende Glaubenspflicht des Fastens zu missachten. In Schulen und Betrieben werden die Menschen zu entwürdigenden, von Beamten überwachten öffentlichen Mahlzeiten verpflichtet, damit sie die Verbote nicht umgehen. Der Zugang zu Moscheen wird erschwert, Menschen unter 18 ist er generell verboten.

Doch dies sind nur ein Teil der Restriktionen, denen die Uiguren innerhalb und außerhalb des gesegneten Monats unterworfen sind. Bart und Kopftuch als unerwünschte Zeichen religiöser Praxis werden mit Schikane der Polizei bekämpft ebenso wie mit öffentlichen Kampagnen auf Plakaten, Hauswänden und in den Medien, in denen Frauen aufgefordert werden, ihr Haar nicht zu bedecken und Männer, sich zu rasieren. Moscheen werden von der Geheimpolizei überwacht, Imame zur Teilnahme an „Umerziehungskursen“ gezwungen. Bei Hausdurchsuchungen wird nach verbotener religiöser Literatur und „illegalen religiösen Aktivitäten“ gesucht, zu denen schon privates Koranlesen mit mehreren Personen zählt.

Über den religiösen Bereich hinaus wird die materielle Kultur der Uiguren vernichtet, Bücher werden verboten, traditionelle uigurische Architektur unter dem Vorwand des Erdbebenschutzes dem Erdboden gleichgemacht. Verhaftungen und Folter sind an der Tagesordnung, Uiguren sind unter den jährlich tausenden Hinrichtungen in der Volksrepublik in völlig unverhältnismäßiger Zahl vertreten. Dazu kommen Gewaltexzesse durch den staatlichen Unterdrückungsapparat wie in der Stadt Urumqi 2009, welches sich übermorgen, am 5. Juli, zum sechsten Mal jährt. Noch immer sind damals verhaftete Uiguren verschwunden. Und schließlich findet seit geraumer Zeit eine Umsiedelungskampagne statt, die ihr Ziel, die Uiguren zur Minderheit in ihrer eigenen Heimat zu machen, fast erreicht hat.

So weit, so schlimm. Doch auch wenn mich das Schicksal der Uiguren lange Jahre und nach wie vor beruflich und privat beschäftigt hat, so will ich hier, im Rahmen der Serie „Freitagsgedanken“ nicht allein die Unterdrückung schildern, obgleich auch das seine Berechtigung hätte.

Ich will viel mehr appellieren, gerade in den Tagen des Ramadan, an Beispiel unserer Reaktion auf diese Situation, uns selbst und unser Handeln zu hinterfragen.

Ich freue mich über jede Aussage, jedes Zeichen der Anteilnahme und Solidarität in sozialen Medien, und weit mehr noch, wenn diese ihren Weg aus dem virtuellen Raum hinaus auf die Straße finden, bei Demonstrationen und Mahnwachen.

Und doch war es in den letzten Tagen für mich auch immer wieder eine bittere Erfahrung, zu sehen, dass bestimmte unerfreuliche Muster wiederkehrten, die auch in anderen Kontexten, etwa beim eingangs angesprochenen Burma und anderswo, zu sehen waren und sind.

Da sind gefälschte oder aus dem Kontext gerissene Bilder – eine Verwerfung islamischer Ethik für sich. Aber auch wenn die Bilder tatsächlich aus dem geschilderten Kontext stammen: sind Schilderungen von Unrecht nicht mehr „genug“, müssen sie von immer neuen, immer extremeren Bildern illustriert werden? Aus nächster Nähe aufgenommene, graphische Bilder von Hinrichtungen, Folter, Leichen, darunter immer wieder sogar Kinder, rauben nicht nur den Opfern die Würde, sie schaden auch uns, den Betrachtern, selbst wenn wir dass nicht sofort wahrnehmen. Feindbilder, Ressentiments und Vorurteile werden geschürt – aber der Feind sind nicht „die Chinesen“, nicht die Buddhisten oder Atheisten. Und erlittenes Unrecht kann nicht gegeneinander aufgerechnet werden, wie es manche Menschen scheinbar versuchen: unterdrückte Muslime in Ostturkestan gegen Terroropfer in Tunesien oder Kuwait…ermordete Uiguren gegen ermordete Kurden in Kobane…wer leidet mehr, wessen Tote sind unschuldiger, wessen Gegner grausamer? Ist es das aufrichtige Mitleid, dass uns dazu bringt, das Profilfoto zu tauschen, oder der Wunsch, verfolgte Menschen zu instrumentalisieren für unsere persönlichen Anliegen und Konflikte?

Und zuletzt etwas, dass mich persönlich immer wieder aufs neue negativ berührt: zu den plakativen Slogans, die geteilte links und grausame Bilder gerne begleiten, gehört immer wieder auch: „Wo sind die ganzen Menschenrechtler und Menschenrechtsorganisationen?“ Und: „Die Welt/die Medien schweigt/schaut weg.“ Vielleicht mit dem Zusatz „weil es um Muslime geht“. Fangen wir mit den Menschenrechtlern an: ich kann sagen, wo sie sind, jetzt gerade und schon in den vergangenen Jahren: auf den Straßen und an ihren Arbeitsplätzen, bei der Verteidigung der Menschenrechte. Wo sind die Facebook- Aktivisten und wo werden sie in einigen Tagen oder einigen Wochen sein? Es geht mir dabei nicht darum, Solidarität und Aktivismus im Internet grundsätzlich zu entwerten. Doch solche Aussagen entwerten ihrerseits die Arbeit die viele Menschen auf der ganzen Welt tagtäglich leisten. Und die Welt schaut weg? Sind Muslime nicht teil der Welt? Wenn die Welt wegschaut und schweigt, heißt das nichts anderes, als das wir wegsehen und schweigen. Wen also klagen wir an?  Ich freue mich, wenn die Situation nun für mehr Menschen ein Thema ist, doch gute Absichten entbinden uns als mündige Menschen und als Muslime nicht von Verantwortung. Und wer wirklich etwas verändern möchte, der muss sich darauf einstellen, lange zu arbeiten, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, um es zu verstehen, Rückschläge in Kauf zu nehmen und seine – verständlichen und berechtigten – Emotionen zu beherrschen, damit sie uns nicht dazu bringen, vom Pfad der Gerechtigkeit abzuweichen.

Es gibt viele Wege, etwas beizutragen, niemand kann, niemand soll dauerhaft demonstrieren oder über eine Angelegenheit alle anderen und das eigene Leben vernachlässigen. Damit möchte ich den Kreis schließen zum Hadith vom Anfang: auch wenn es nur eine Kleinigkeit ist, die wir tun, beispielsweise jemand anderen über die Situation zu informieren, der damit bisher nicht vertraut war, so ist das wertvoll. Aber wir sollten uns bemühen, unseren Einsatz regelmäßig und nachhaltig zu machen und auf unsere Taten und Aussagen zu achten. Sind sie in Inhalt wie Form so edel wie unsere erste Absicht?

Ich will in diesen Tagen des Gnadenmonats Ramadan mit etwas spirituellem und mit etwas positivem in einem traurigen Thema schließen: all die Repression fruchtet nichts, die Menschen halten mit Hingabe an ihrem Glauben und ihrer Kultur und dem Kampf um ihre Rechte fest. Wer von uns in diesen Tagen sein Fasten bricht, wer zum nächtlichen Gebet in die Moschee geht, wer den Koran rezitiert, wer all die Freude und den Segen dieses Monats lebt und teilt, mit Familie und Freunden, an den appelliere ich, hin und wieder einen Moment innezuhalten, Allahs dankbar zu gedenken und für jene zu beten, für die dies jedes Mal bedeutet, Lebensunterhalt, Gesundheit, Freiheit und Sicherheit aufs Spiel zu setzen.

Eines der wertvollsten Taten, die wir regelmäßig beitragen können, sind unsere Gebete.

Möge Allah der Erhabene die uns verbleibenden Tage des Ramadan segnen, möge Er Trost und Schutz und Hilfe aller Unterdrückten sein, in Ostturkestan und überall auf der Welt. Amin.

In diesem Sinne wünscht euch der Vorstand des RAMSA einen gesegneten Freitag, ein schönes Wochenende und weiter einen gesegneten Ramadan.