Sie sind hier

Ausführliche Antwort von Serife Ay

02.01.2012

Das stimmt, ich trage erst seit kurzem ein Kopftuch. Genauer gesagt habe ich mich nach sehr sehr langen Überlegungen und intensiver Beschäftigung mit dem Koran, mit mir selbst, mit den zentralen Fragen die mich beschäftigen, wie beispielsweise meiner Rolle in dieser Welt, die Allah mir als seiner Dienerin zugewiesen hat, aber natürlich auch mit meinen Ängsten und Wünschen, selbstbestimmt und aus freien Stücken am 1. Tag des Ramadhan (in diesem Jahr) entschieden das Kopftuch zu tragen. Es hat eine sehr lange Vorgeschichte, die ich versuchen möchte im Allgemeinen zu skizzieren, ohne den Leser/die Leserin des Interviews mit zu langen Erläuterungen zu langweilen und auch mit dem Anspruch den „roten Faden“ dieser Frage zu behalten.

Ich bin in einer religiösen Familie aufgewachsen, in der im Großen und Ganzen die Religion im Alltag und Leben eine sehr wichtige Rolle einnahm. Zumindest hatten einige Mitglieder  meiner Familie den Anspruch oder die Absicht, ihr Leben nach den grundlegenden Geboten des Islams zu richten und diese im Alltag zu praktizieren. Wobei ich einschränkend sagen muss, dass insbesondere in den 80ern und 90er Jahren in den meisten türkischstämmigen Familien die religiöse Praxis meist  traditionell- kulturelle Prägungen vorzuweisen hatte, in der manche Praktiken mit dem islamischen Glauben an sich kaum oder wenig zu tun hatten. Wobei ich eingrenzend einfügen möchte, dass nicht alle kulturellen Praktiken oder Formen den islamischen Prinzipien widersprechen müssen, viele können auch eine Bereicherung im Alltag der Muslime darstellen. Das möchte ich deshalb betonen, damit nicht der Eindruck entsteht, dass generell traditionell-kulturelles Leben in sich eine negative Komponente aufweist. Vor allem fehlte und fehlt bei vielen Muslimen leider noch immer, die bewusste und aktive Beschäftigung mit dem Koran und dessen Bedeutung, auch Tafsir genannt. Tafsir ist genau genommen die Exegese des Korans, die die Erläuterung und die  Kommentierung einschließt, sie gehört zweifelsohne zu den wichtigsten islamischen Wissenschaftsdisziplinen. Dass es eine Wissenschaftsdisziplin ist, führt nicht zu der Schlussfolgerung, dass das „normale Bürgertum“ sich nicht mit dem Koran selbst beschäftigen kann. Leider wurde noch bis vor kurzem diese bestimmte, eingrenzende und bisweilen „Koran- distanzierte Haltung“ vermittelt, so dass die Beschäftigung mit dem Koran nur den Gelehrten, Imamen, Religionspädagogen vorbehalten wurde. Zumindest vermittelte man diesen Eindruck, als ob die Botschaft des Korans eine unüberwindbare Schwierigkeit aufwies, die nur bestimmte Gruppen, mit einem bestimmten islamischen Bildungshintergrund verstehen könnten. Wichtig ist in diesem Zusammenhang: Die Interpretation, Auslegung und die Erläuterung der Botschaft des Koran obliegt den islamischen Gelehrten, die Beschäftigung und die Verstehensleistung allen denkenden Menschen. Die bewusste Hinwendung zu Allah, das Gottesbewusstsein und die Analyse und Interpretation des Gesamtgefüges der Religion waren in meiner religiösen Erziehung eher weniger ausgeprägt. Ich besuchte gern die Moschee um den Koran zu rezitieren und die Suren auswendig zu lernen, die wichtigsten Säulen, wie bspw. das Gebet, auf dem diese Religion auch aufbaut, kennen zu lernen. Dies hat eine unerlässlich- wichtige Funktion in meiner Erziehung gehabt, und legte den ersten Baustein bzw. die ersten Grundlagen für meine Religiosität und die Liebe zu Allah gelegt haben. Im Laufe meines Lebens ist die Religion immer ein fester Bestandteil meines Lebens gewesen. Jedoch erwies sich die Umgebung, in der ich aufwuchs nicht als unterstützender Faktor, sondern eher als Hindernis. Denn es gab im Bereich der Moscheeaktivitäten wenige Möglichkeiten, in der junge Menschen sich aktiv einbringen und sich weiter bilden und somit entwickeln konnten. Auch der Freundeskreis praktizierte eher eine Religiosität, die bereits angedeutet, eher die praktische Gestalt eines "Kulturmuslimen" annahm. Mit den vielen Fragen, die mich in meinem Alltag beschäftigten, war ich daher die meiste Zeit allein, sodass ich versuchte diesen „Makel“ damit zu kompensieren, dass ich viele Bücher zum Thema Islam las. Jedoch bemerkte ich das Fehlen einer tiefer greifenden Durchleuchtung von Allahs Botschaft und den direkten Bezug zu mir. Nicht nur das Was und Wie, sondern auch das Warum (die Hikma) der menschlichen Existenz, der jeweiligen Gebote und dessen Folgen für mich persönlich, erschienen mir mehr als bedeutend zu sein. Es kam immer mehr die enttäuschende Frage auf: Das kann doch nicht alles gewesen sein, was Allah uns mitteilen möchte?! Ist das alles, was der Koran für uns bereit hält?
Als nächsten wichtigen Faktor kann ich die täglichen fünf Gebete nennen, die ich im Laufe der Zeit als enormen spirituellen Input empfand und sie deshalb immer mehr in meinen Alltag integrierte. Zuvor hatte ich die Gebete sporadisch und in unregelmäßigen Abständen ausgeführt und mir fehlte die selbstverständliche und dennoch bewusste Niederwerfung vor Allah. Ich vollzog eine schleichende Weiterentwicklung in Bezug auf die Gebete, die ich nach einer Zeit nicht nur als meine so genannte „Bringschuld“ gegenüber meinem Schöpfer betrachtete, sondern als ein tiefes Bedürfnis meiner Seele, die nach einer spirituellen Nahrung forderte. Durch die Niederwerfung und die Bittgebete, die ich aussprach, entwickelte sich bei mir ein Bewusstsein für meine Verantwortung gegenüber meinen Schöpfer und meiner Aufgabe in dieser Welt als Statthalter.
Während dieser Zeit wiesen mich meine Eltern mich immer wieder darauf hin, dass das Tragen des Kopftuches eine von vielen wichtigen islamischen Geboten darstellt, deren religiösen Hintergründe und Bedeutungen sie mir erläuterten und nahelegten. Daher kann ich sagen, dass das religiöse Grundverständnis bei mir vorhanden war, ich jedoch trotz alledem das Kopftuch leider nicht trug, aus Mangel an Mut und der Mangel an Bereitschaft, dafür die vermeintlich negativen gesellschaftlichen Folgen selbstbewusst zu ertragen und zu meinem Lebensentwurf zu stehen. Heute denke ich, dass mir im Grunde genommen damals das nötige Gottesbewusstsein und damit verbunden das unerschütterliche Gottvertrauen fehlte.


Wie kann man sich ohne Wenn und Aber dem HERRN der Welten ergeben, wenn man Ihm im Unterbewusstsein nicht vertraut?! Wenn kleine Zweifel sich ins Herz einschleichen, wenn diese Zweifel einen von den ursprünglich reinen Absichten fortwährend entfernen?
Zufrieden war ich mit meiner Religionsausübung natürlich nicht, mein Gewissen ermahnte mich, dass ich nicht so handele, wie es mein Herz mir eigentlich ständig fühlen ließ. Das innere Erleben und das äußere Erscheinungsbild stimmten für mich einfach nicht mehr überein. So kam es, dass ich kopftuchtragende Frauen auf der Straße mit einer gewissen Melancholie hinterherschaute und mir insgeheim wünschte, auch in einer vollkommenen Überstimmung mit mir selbst und meinen religiösen Grundüberzeugungen leben zu können. In einem Vers der Übersetzung der Sura al- Baqara, ich glaube, dass war der Vers 112, heißt es folgendermaßen: „ Ja, fürwahr: jeder, der sein ganzes Wesen Gott ergibt und überdies Gutes tut, wird seinen Lohn bei seinem Erhalter haben; und alle solche brauchen keine Furcht zu haben, noch sollen sie bekümmert sein.“
Zwar achtete ich schon damals immer darauf, nicht zu körperbetonte und schon gar nicht kurze Bekleidung zu tragen, weil ich mich sonst unwohl gefühlt hätte und mir in einem gewissen Maße entblößt vorkäme, wusste und spürte jedoch, dass es noch nicht vollkommen in Übereinstimmung mit meiner natürlichen Fitra (der Natur des Menschen) und meiner religiösen Grundüberzeugung stand.


Rückblickend war der nächste entscheidende Schritt, dass ich die Referendariatstelle in Essen gefunden hatte und deshalb umziehen musste. Ich lebte nun mehr allein und hatte in den zwei Jahren eine sehr arbeitsintensive praktische Ausbildungszeit zu bewältigen, aber auch den Raum, um über mich selbst nachzudenken und zu reflektieren. Gleichzeitig lernte ich neue Menschen kennen, die von ihren Persönlichkeiten und von ihren Lebensgestaltungen her sehr anders waren, als ich das von meiner früheren Umgebung kannte. Sie lebten die islamische Lebensweise in all ihren Lebensbereichen in einer Selbstverständlichkeit aus, die ich als vorbildhaft betrachtete. An einem Tag lernte ich eine Schwester kennen, die das gleiche Interesse für Bücher und für einen bestimmten Autor hatte wie ich. Im Laufe des Gesprächs kamen wir zu der Frage, ob es denn in unserer Stadt nicht eine Gruppe gab, die Tafsir- Sitzungen organisierte. Allerdings nicht in Form eines frontalen Vortrags, wie es üblicherweise durchgeführt wird, sondern wir wünschten uns ein Zusammenkommen, in der jede ihre eigenen Gedanken, Überlegungen äußern und diese mit anderen konstruktiv teilen konnte. So kam es, dass wir nach ein  paar Monaten mit einer Gruppe von Freundinnen eine Tafsir- Gruppe gründeten und somit ein wöchentlicher Austausch mit Analyse der einzelnen Ayats im Koran stattfand. Ich bemerkte immer mehr, dass sich in mir ein schleichender Prozess vollzog. Ich ging an den Koran so heran, wie die Sahabas (die Weggefährten des Propheten) es beispielhaft vorgemacht hatten. Sie lasen die Ayats so, als ob diese gerade in diesem Moment an sie persönlich herabgesandt wurden. Ich  fühlte mich direkt angesprochen und war angesichts dessen in aufgeregter Stimmung, die ich hier schwer beschreiben könnte. Beispielweise fällt mir zu dieser Zeit die Übersetzung der Sura Al- Imran ein, wo Allah ungefähr sagt, dass die, die Glauben erlangt haben, Gottesbewusst sein sollen und man nicht dem Tod erlauben soll uns zu ereilen, ehe wir uns Ihm ergeben haben.
UND (an jenem Tag) wird der Gesandte sagen: "O mein Erhalter! Siehe (einige von) meinem Volk sind dazu gekommen, diesen Qur`an als etwas anzusehen (was) aufgegeben (werden sollte)! Man könne dies laut Muhammad Asad so verstehen, dass manche Menschen dazu geneigt sind, den Koran und dessen Botschaft als nicht mehr relevant für das eigene Leben zu sehen, quasi als ein Buch zu lesen, was uns vergangene Geschichten von Propheten etc. berichtet. Aber nicht als etwas, was explizite individuelle Bedeutungen oder Schlussfolgerungen für unser Leben aufzeigen könnte.
Diese und einige andere Verse trafen meinen wunden Punkt, da ich einerseits mich meinem Schöpfer ergeben und aus eigenem Bedürfnis heraus, das Kopftuch anlegen wollte, andererseits jedoch vehement dieses starke Bedürfnis unterdrückte und von mir schob, da ich mich ja sonst mit meinen Schwächen explizit auseinandersetzen müsste. Und darauf folgend auch meinen Traumberuf aufgeben müsste, für den ich sehr viel Zeit, Energie und Hingabe investiert habe. Mein noch nicht stark ausgeprägtes Gottvertrauen wurde durch viele Ayats im positiven Sinne „erschüttert“. In dem Sinne das derjenige, der sich Allahs Macht und Barmherzigkeit bewusst ist, von einem Gottvertrauen begleitet wird. Das Gegenteilige ist weder logisch nachvollziehbar, noch zeugt es von einem starken Iman. Passend dazu könnte man folgenden Vers nennen in der Übersetzung der Sura 13, Vers 30 „Sag: „Er ist mein Erhalter. Es gibt keine Gottheit außer Ihm. Auf Ihn habe ich mein Vertrauen gesetzt, und zu Ihm ist meine Zuflucht.“


Im Unterbewusstsein wusste ich insgeheim, dass mein Berufsleben bald sein Ende nehmen würde, ich spürte es einfach, da ich das Bedürfnis nach dem Kopftuch nicht mehr so „leicht“ unterdrücken konnte wie früher. Es widerstrebte mir, wenn ich nach dem Gebet oder nach einem Moscheebesuch etc.  mein Kopftuch abnahm.
Nachdem ich ein Jahr lang als Vertretungslehrerin gearbeitet habe, sah ich mich intensiver nach einer  festen Stelle um und schickte zu diesem Zweck auch Bewerbungen ab und erhielt auch prompt von einer Gesamtschule in Duisburg eine Einladung zum Bewerbungsgespräch. Für mich war das gar keine Sache, die ich besonders ernst nahm. Ich wollte lediglich einmal miterleben, wie ein Bewerbungsgespräch für eine Beamtenstelle, die ja sehr begehrt ist, abläuft. Aus dem Grund war ich während des gesamten Gespräches, aber auch schon vorher, als ich mich für die Fragen konkret vorbereiten musste, untypischerweise gar nicht aufgeregt. Im Gegenteil, eine Art der Gleichgültigkeit, verbunden mit lockerer Haltung prägte das Gespräch. Danach gab es eben eine Wartezeit, bis man mich in den Raum hinein bat. Und was war? Sie sagten mir, dass sie sich tatsächlich für mich entschieden haben und sie mich unbedingt an ihrer Schule als Lehrerin einstellen wollten und dass ich auch jetzt den Vertrag unterschreiben könnte. Diesen Moment meines Lebens werde ich wahrscheinlich nie mehr vergessen… Wie auch? Das Lächeln meines Gesichtes verwandelte sich in einen erschrockenen Ausdruck, meine Hände zitterten und statt mich zu freuen, überkam mich eine unheimliche Traurigkeit. Ich antwortete ihnen stotternd, dass ich mich zwar sehr freue, aber ob es in Ordnung wäre, wenn ich mir für die Entscheidung einen Tag Zeit nehmen würde. Sie waren erst einmal leicht irritiert, denn normalerweise würde jeder Bewerber eine schnelle Zusage geben, was bei mir nicht der Fall war. Bis zum Abend sollte ich meine Entscheidung per Telefon bekannt geben.
Als ich aus dem Raum betrat und das Schulgebäude verließ, fing ich an zu weinen. Obwohl ich es mit Nachdruck versuchte zu verhindern. Die Tränen flossen einfach…
Ich wusste es gab ein unüberbrückbares Problem. Ich wollte nämlich aus tiefstem Herzen, aus reinem Gewissen und aus Liebe zu Allah nur eins: als eines der Zeichen meiner Gottergebenheit das Kopftuch tragen, ohne die Trennung von öffentlichen und privatem Leben durchzuführen. Ich wollte mein inneres Gleichgewicht herstellen, ohne Widersprüche existieren. So wie es Allah mit dem Tragen des Kopftuches beabsichtigt, statt exponiert mit meiner Weiblichkeit im Vordergrund zu stehen, mit meiner Persönlichkeit und meinen Fähigkeiten am gesellschaftlichem Leben teilnehmen. Eine gesunde Basis dafür schaffen, das die beiden Geschlechter in Zusammenarbeit das Gute vollbringen.


Ich rief meine Freundin an, die über meinen Aufruhr und meine Traurigkeit erschrocken war, sie versuchte mich natürlich zu beruhigen. Irgendwie war ich kaum noch zu beruhigen. So ging ich noch in die Schule, weil ich noch zwei Unterrichtsstunden vor mir hatte. Zuhause saß ich fast ganze 7 Stunden, gefühlte 24 Stunden, vor meinem Handy, schliesslich musste ich eine Antwort geben, ob ich die Stelle annehme oder nicht. In diesen Stunden (einigen der schwersten meines ganzen Lebens!) war es so, als würde man mir meine Seele in zwei Teile spalten. Ich liebte meinen Beruf, ich unterrichtete gerne und auch der Kontakt mit Kindern erfüllte mich. Außerdem hatte ich doch so viel investiert, damit ich diesen Beruf ausüben kann. War sogar aus Kassel nach Essen gezogen, was mir persönlich schwer genug gefallen war. All das sollte umsonst sein?! Was ist denn überhaupt anders an meiner Person und  vor allem an meinen Fähigkeiten und Kompetenzen, wenn ich das Kopftuch anlege und so arbeiten möchte? Wieso stellt man mich vor so eine Entscheidung? Weshalb will man mich zwingen, gegen meine inneren Überzeugungen zu leben? Ist es nicht wichtiger, als Lehrerin authentisch zu sein, man hat es schliesslich mit Menschen zu tun, bei denen die zwischenmenschlichen Nuancen von entscheidender Bedeutung sind? Standen nicht vor mir auch schon etliche vor ähnlichen Prüfungen, wie beispielsweise die  Weggefährten des Propheten? Sie waren vorbildhaft und sind mit Entschlossenheit auf Prüfungen eingegangen und haben sie im Sinne Allahs bestanden. Was wollte ich eigentlich wirklich? Ich nahm diese Situation immer mehr als ein Zeichen oder als eine Art von Prüfung von Allah wahr, wie ich mich nun entscheiden werde. Wollte ich mich wieder dem gesellschaftlichen Druck beugen oder mich frei und mit voller Überzeugung für das einstehen, was ich als Person im Endeffekt darstelle? Ich wusste letztendlich, wenn ich der Stelle zusagen würde, könnte ich meinem eigentlichen Wunsch nach der Religionsausübung vielleicht nie mehr Folge leisten. Meinem innerem Schweinehund bzw. meinem Nefs würde es noch schwerer fallen,  von all den „weltlichen Verlockungen“ (angemessenes Einkommen, Beruf den man liebt, Ansehen etc.) Abstand zu nehmen. Jetzt oder Nie!  Ich sagte der Stelle schweren Herzens ab.