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Islamrechtliche Positionen zur Stammzellforschung
Um eine human-embryonale Stammzelle zu erhalten ist es notwendig einen 5 bis 7 Tage alten Embryo zu zerstören. Auch wenn es nur 5 bis 7 Tage alt ist, so ist es doch irgendwo „menschlich“. Hierin liegt das ethische Dilemma, denn die embryonale Stammzellforschung verspricht große Ergebnisse im Dienste des Menschen, lässt jedoch zwei moralische Prinzipien miteinander kollidieren:
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Die Pflicht menschliches Leid zu verhindern oder zumindest zu lindern
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Die Pflicht zur Achtung und Wahrung menschlichen Lebens
Kritiker und Verfechter vertreten diesbezüglich verschiedene Auffassungen,
einige nehmen den Standpunkt ein, die befruchtete Eizelle (Zygote) habe vollen
menschlichen Status inne und dürfe daher kein Objekt der Forschung sein und
zerstört, in diesem Zusammenhang gar getötet, werden. Am anderen Ende des
Spektrums steht die Aussage, wonach der Embryo bloß ein Zellklumpen sei
und keine moralische Verpflichtung zu dessen Wahrung vorläge. Die meisten
jedoch vertreten eine Position der Mitte, indem sie erklären: Die Zygote hat
zwar einen Wert, ist jedoch erst zu einem späteren Entwicklungsstadium
schützenswert. Als Grenzwert gelten hierbei i.d.R. etwa 14 Tage nach der
Befruchtung, besonders deswegen, weil erst hiernach eine individuellere
embryonale Entwicklung, die Morphogenese, einsetzt. Die Zygote entwickelt
sich über spezifische Stadien, am 13-15 Tag im Stadium der Gastrulation
befindlich (Stadien nach Carnegie), sukzessive weiter zum Embryo und dann
zum Fötus. Bis zu diesem Punkt wird die Entwicklung der Zygote als
Primitiventwicklung/Vorembryonalperiode bezeichnet, wohingegen nach der
Beendigung der 4ten Schwangerschaftswoche die eigentliche
Embryonalperiode (4-8 Woche post conceptionem) beginnt, bevor etwa ab der
8ten Schwangerschaftswoche bis zur Geburt die Fetalperiode einsetzt.
Theologen vertreten ebenso eine breite Palette an Meinungen zur embryonalen
Stammzellforschung. Sie können im Groben wie folgt wiedergegeben werden:
Das Judentum und die meisten Protestanten befürworten die embryonale
Stammzellforschung. Die katholische, die östlich-orthodoxen sowie die meisten
der eher konservativen protestantischen Kirchen widersprechen. Taoisten
verbieten die Stammzellforschung ebenfalls, Hindus und Buddhisten hingegen
stimmen der Forschung zu.
Die islamische Perspektive:
Das angewandte islamische Recht beruft sich immer zunächst auf seine
Hauptquellen Koran und Sunna. Finden sich in diesen beiden Quellen keine
Hinweise oder Belege für eine Rechtsprechung, wird im Zuge des iǧtihād auf
weitere Mittel der Rechtsfindung zurückgegriffen.
Im Prinzip gelten zu dieser Sachfrage einige allgemeine Prinzipien des Islam:
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Der Mensch genießt den höchsten Wert in der Schöpfung. Der Koran ehrt den Menschen mit den Worten: „Nun haben wir fürwahr den Kindern Adams Würde verliehen“
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Die Gesundheit wird als eines der höchsten Gaben Gottes gesehen. Nicht dem Menschen gehört sein Körper, sondern Gott und es ist ein von Ihm anvertrautes Gut, welches zu wahren ist. Manche Gelehrte gehen so weit zu sagen, jedwede medizinische Forschung im Dienste dieses Prinzips sei eine religiöse Kollektivpflicht (fard kifāya)
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Der Islam ermutigt die Menschen zur Betrachtung und Erforschung der Natur. Viele Verse des Koran bewegen den Leser zum Erkunden neuer Horizonte
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Der Prophet ordnete den Menschen an, sich zu heilen wenn sie erkranken. Es wird berichtet, dass er sagte: „Gott schuf keine Krankheit ohne ihre Heilung außer den Tod. Also Kinder Adams, suchet Heilung, doch verwendet keine verbotenen (ḥarām) Mittel bei der Behandlung“
Es besteht also eine klare Direktive für Muslime, sich im Bereich der
medizinischen Forschung zu engagieren. Was die human-embryonale
Stammzellenforschung betrifft, ist es erforderlich iǧtihād auszuüben, im
Rahmen allgemeiner Prinzipien des angewandten Rechts, die da wären:
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Alle Handlungen sind grundsätzlich zulässig, solange sie keinem kategorischen Verbot unterliegen.
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Schweigen die Quellen der Rechtsfindung, so gilt es die maṣlaḥa (das Gemeinwohl) im Lichte dieser Quellen zu ergründen, nach der Maxime: „Wo das Wohl der Menschen liegt, dort liegt der Wille Gottes“
Die Kernfrage bei der embryonalen Stammzellforschung ist die Frage nach
dem Beginn menschlichen Lebens. Es gibt weder im Koran noch in der Sunna
eine spezifische Definition hierfür, doch einige Verse im Koran werden in der
Regel hierzu herangezogen:
„Und wahrlich, wir erschaffen den Menschen aus reinstem Ton. Dann setzen wir ihn als Samentropfen an eine sichere Stätte. Dann machen Wir den Tropfen zu etwas, dass sich einnistet, und das sich Einnistende zu einer Leibesfrucht, und formen das Fleisch zu Gebein und bekleiden das Gebein mit Fleisch. Dann bringen Wir dies als eine weitere Schöpfung hervor. Gesegnet sei Gott, der beste Schöpfer!“
Und in einer anderen Übersetzung derselben Verse heißt es:
„Nun fürwahr erschaffen Wir den Menschen aus der Essenz des Tons, und
dann lassen Wir ihn als Samentropfen in fester Verwahrung (des
Mutterleibes) bleiben, und dann erschaffen Wir aus dem Samentropfen eine
Keimzelle, und dann erschaffen Wir aus der Keimzelle einen embryonalen
Klumpen, und dann erschaffen Wir in dem embryonalen Klumpen Knochen,
und dann bekleiden Wir die Knochen mit Fleisch – und dann bringen Wir (all)
dies ins Dasein als eine neue Schöpfung: geheiligt ist daher Gott, der Beste
Handwerker!“
Diese Verse deuten stark daraufhin, dass die „neue Schöpfung“ (Der Mensch)
erst nach einigen Phasen der embryonalen Entwicklung existiert und nicht
schon zur Zeit der Befruchtung.
Die muslimischen Gelehrten teilten die Entwicklung auf Grundlage dieser Verse
in die zwei Phasen ein: eine biologische und eine menschliche. Sie stimmen in
der Regel darin überein, dass das „Einhauchen der Seele“ in den Fötus den
Unterschied zwischen der biologischen Existenz nach der Befruchtung und
dem menschlichen Sein markiert. Ibn al-Qayyim (13/14 Jh.) verglich das
Wachstum und die Ernährung des Embryos vor dem Einhauchen der Seele mit
einer Pflanze. Sobald jedoch das Einhauchen der Seele erfolgt, wird es zu
einem Menschen.
Ein weiteres Argument für die Differenzierung von biologischer und
menschlicher Existenz ist linguistischer Natur. Das arabische Wort für Embryo
lautet ǧanīn, was so viel bedeutet wie „etwas Verborgenes“ (im Mutterleib).
Imam aš-Šāfiʿī (gest. 820), der Gründervater einer der vier Rechtsschulen
sagte, die Bezeichnung ǧanīn treffe nur nach der muḍġa-Phase (oben als
Leibesfrucht oder embryonaler Klumpen) zu.
Den Zeitpunkt des Einhauchens der Seele haben die Gelehrten entsprechend
folgender Überlieferung des Propheten ausgemacht:
„Wahrlich, die Schöpfung eines jeden von Euch wird im Leibe seiner Mutter in
vierzig Tagen zusammengebracht; danach ist er ebenso lang etwas sich
einnistendes (eine Keimzelle), danach ebenso lang eine Leibesfrucht (ein
embryonaler Klumpen), (…), dann haucht ihm ein Engel die Seele ein“
Hieraus leiten viele Gelehrte ab, dass menschliches Leben nach 120 Tagen
beginnt. Einige wenige meinen, es seien nur 40 Tage. Sie sind sich aber alle
darin einig, dass embryonales Leben schon vor dem Einhauchen der Seele zu
respektieren ist, daraufhin mit der voranschreitenden Entwicklung zunehmend
mehr Rechte bekommt und volle Rechte mit dem Einhauchen der Seele erlangt.
Auf der Grundlage, dass menschliches Leben nicht vor der Beseelung besteht,
ist die überwiegende Mehrheit der Muslime und muslimischer Wissenschaftler
sich einig, dass die Forschung mit embryonalen Stammzellen zulässig ist. Die
Zulässigkeit bedingt auch, dass diese Embryonen nicht speziell für die
Forschung hergestellt werden. Überzählige Embryonen aus dem Verfahren der
in-vitro-Fertilisation (IVF) gelten als legitim. In der Regel werden mehrere
Embryos während des Verfahrens der IVF erzeugt, welches der Behandlung
von Unfruchtbarkeit eines Ehepaares dient, um den Kinderwunsch zu
unterstützen. Überzählige Embryonen sollten nach Mehrheit der Gelehrten zur
Untersuchung und für einen potenziellen therapeutischen Nutzen zur Verfügung
stehen, anstatt dass man sie sterben lässt oder zerstört.
Manche Gelehrte sind so zuversichtlich über den Nutzen der Forschung, dass
sie diese gar konkret zu einer kollektiven religiösen Pflicht erklären (fard
kifāya).
Auch wenn die oben genannten Positionen derzeit die herrschenden
Auffassungen bilden, wird immer noch über die legitime Gewinnung von
Stammzellen und entsprechenden Richtlinien zur Regulierung und Vermeidung
von Missbrauch angeregt diskutiert.
Die Muslime waren immer ermutigt solche wissenschaftliche Forschung zu
betreiben, die sich bei der Suche nach Heilmethoden für die Menschheit als
hilfreich erweist. Auf Grundlage der zahlreichen potenziellen Vorteile der
embryonalen Stammzellforschung erlaubt und unterstützt die islamische Lehre
daher die human-embryonale Stammzellforschung. Die Mehrheit der
muslimischen Gelehrten befürwortet weiterhin auch das therapeutische Klonen.
Voraussetzung für die Zulässigkeit ist allerdings die Verwendung überzähliger
früher Prä-Embryonen, die bei Behandlung der Unfruchtbarkeit in in-vitro-
Fertilisations-(IVF) Kliniken eingefroren und kryokonserviert werden.
Die frühen Prä-Embryonen sind aus islamrechtlicher Perspektive als des
Respektes würdig zu erachten, doch haben sie nicht die gleiche Heiligkeit wie
ein Embryo nach der fortgeschrittenen Implantation in die Gebärmutter und vor
allem nach dem Einhauchen der Seele.
Zum Therapeutischen Klonen
Hier sind die Meinungen der Gelehrten weiter auseinander als bei der
embryonalen Stammzellforschung. In einem Rechtsgutachten aus dem Jahre
2003 hat das in Saudi Arabien verortete Muslim World League’s Islamic
Jurisprudence Council folgendes erklärt:
“Die Verwendung von Stammzellen ist zulässig und legitim, sowohl für die
wissenschaftliche Forschung als auch für die Therapie, so lange ihre Quellen
legitim sind, wie zum Beispiel bei Erwachsenen, wenn sie ihre Erlaubnis dazu
geben und es ihnen kein Schaden zufügt; bei Kindern mit der Erlaubnis ihrer
Erziehungsberechtigten für einen rechtlich erlaubten Nutzen, ohne ihnen Leid
zuzufügen; aus Plazenta- oder Umbilicalblut mit Erlaubnis der Eltern, bei
spontan abgebrochen Embryonen oder solchen, die für einen rechtlich
akzeptablen Grund und mit der Erlaubnis der Eltern abgebrochen wurden;
überschüssig befruchtete Eier, die im Laufe der IVF hergestellt wurden und
von den Eltern mit der Zusicherung gestiftet werden, dass sie nicht für eine
illegale Schwangerschaft verwendet werden. Die Verwendung und Erhaltung
von Stammzellen ist verboten, wenn ihr Ursprung illegitim ist, wie zum
Beispiel bei vorsätzlich abgetriebenen Föten (Abtreibung ohne
Rechtsgrundlage medizinischen Grundes); vorsätzliche Befruchtung zwischen
einer gespendeten Eizelle und einem Spermium und dem therapeutischen
Klonen“
Aus einer AG der Al-Azhar Universität in Kairo geht hervor, dass nicht
reproduktives Klonen islamrechtlich zulässig ist. Al-Qardawi sagte,
dass, sofern es möglich sei Organe wie etwa das Herz oder die Leber zu
klonen, wäre dies erlaubt und sogar obligatorisch.
Auch der Malaysian Fatwa Council erlaubt das therapeutische Klonen. Dies
trifft auch für die schiitische Rechtsprechung zu. Die Mehrheit der
muslimischen Gelehrten erlaubt therapeutisches Klonen also. Die UN
verabschiedete 2005 eine Erklärung zum Verbot menschlichem Klonens und
fasste das therapeutische Klonen dazu. Diese Erklärung wurde nur von 24
Staaten mit muslimischer Mehrheitsbevölkerung getragen.
Abschließendes
Viele muslimische Länder verfügen nicht über die notwendige Infrastruktur
und stehen vor dem Problem der Finanzierung solcher Projekte. Das ethische
Dilemma dreht sich praktisch eher um die Begründung und Zuweisung dieses
Sektors angesichts der vorhandenen knappen Ressourcen im
Gesundheitswesen allgemein. Die Frage in diesen Ländern ist also vielmehr
die, ob es akzeptabel ist in langfristige medizinische Forschung zu investieren,
statt dringenden medizinischen Bedarf zu gewähren.
Dennoch gibt es Initiativen zur Behandlung bioethischer Fragestellungen. Um
dem iǧtihād gerecht zu werden, wurden interdisziplinäre Konferenzen gehalten
und Gesellschaften gegründet, die bei den bioethischen Fragestellungen – wie
etwa der Stammzellforschung - zu angemessenen Positionen zu gelangen
versuchen,
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The Islamic Organization for Medical sciences (IOMS), Kuwait, 1980er Jahre
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Yusuf al-Qardawi
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Society for Islamic Medical Sciences in Jordanien
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Die al-Azhar Universität in Ägypten
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Muslim World League’s Islamic Jurisprudence Council, Fatwa, 2003
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Fiqh Council of North America
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The Islamic Medical Association of North America
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Islamic Institute of Turkey
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The Malaysian Fatwa Council
Bacem Dziri
Das vorliegende Skript ist eine, bezogen auf die islamrechtlichen Positionen
zur Stammzellforschung auf Deutsch, zusammengefasste und nur geringfügig
veränderte Wiedergabe des Artikels „Developments in Stem Cell Research and
Therapeutic Cloning: Islamic Ethical Positions, A Review“, von von Hossam E.
Fadel, erschienen in Bioethics am 6.10.2010. Bei der Beurteilung des
Sachverhaltes sollte man sehr vorsichtig sein, doch mag das vorliegende Skript
Interessierten schon mal einen Einblick vermitteln.