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Islamrechtliche Positionen zur Stammzellforschung

25.11.2011

Um eine human-embryonale Stammzelle zu erhalten ist es notwendig einen 5 bis 7 Tage alten Embryo zu zerstören. Auch wenn es nur 5 bis 7 Tage alt ist, so ist es doch irgendwo „menschlich“. Hierin liegt das ethische Dilemma, denn die embryonale Stammzellforschung verspricht große Ergebnisse im Dienste des Menschen, lässt jedoch zwei moralische Prinzipien miteinander kollidieren:

 

  • Die Pflicht menschliches Leid zu verhindern oder zumindest zu lindern

  • Die Pflicht zur Achtung und Wahrung menschlichen Lebens

 

Kritiker und Verfechter vertreten diesbezüglich verschiedene Auffassungen,

einige nehmen den Standpunkt ein, die befruchtete Eizelle (Zygote) habe vollen

menschlichen Status inne und dürfe daher kein Objekt der Forschung sein und

zerstört, in diesem Zusammenhang gar getötet, werden. Am anderen Ende des

Spektrums steht die Aussage, wonach der Embryo bloß ein Zellklumpen sei

und keine moralische Verpflichtung zu dessen Wahrung vorläge. Die meisten

jedoch vertreten eine Position der Mitte, indem sie erklären: Die Zygote hat

zwar einen Wert, ist jedoch erst zu einem späteren Entwicklungsstadium

schützenswert. Als Grenzwert gelten hierbei i.d.R. etwa 14 Tage nach der

Befruchtung, besonders deswegen, weil erst hiernach eine individuellere

embryonale Entwicklung, die Morphogenese, einsetzt. Die Zygote entwickelt

sich über spezifische Stadien, am 13-15 Tag im Stadium der Gastrulation

befindlich (Stadien nach Carnegie), sukzessive weiter zum Embryo und dann

zum Fötus. Bis zu diesem Punkt wird die Entwicklung der Zygote als

Primitiventwicklung/Vorembryonalperiode bezeichnet, wohingegen nach der

Beendigung der 4ten Schwangerschaftswoche die eigentliche

Embryonalperiode (4-8 Woche post conceptionem) beginnt, bevor etwa ab der

8ten Schwangerschaftswoche bis zur Geburt die Fetalperiode einsetzt.

 

Theologen vertreten ebenso eine breite Palette an Meinungen zur embryonalen

Stammzellforschung. Sie können im Groben wie folgt wiedergegeben werden:

Das Judentum und die meisten Protestanten befürworten die embryonale

Stammzellforschung. Die katholische, die östlich-orthodoxen sowie die meisten

der eher konservativen protestantischen Kirchen widersprechen. Taoisten

verbieten die Stammzellforschung ebenfalls, Hindus und Buddhisten hingegen

stimmen der Forschung zu.

 

Die islamische Perspektive:

 

Das angewandte islamische Recht beruft sich immer zunächst auf seine

Hauptquellen Koran und Sunna. Finden sich in diesen beiden Quellen keine

Hinweise oder Belege für eine Rechtsprechung, wird im Zuge des iǧtihād auf

weitere Mittel der Rechtsfindung zurückgegriffen.

 

Im Prinzip gelten zu dieser Sachfrage einige allgemeine Prinzipien des Islam:

 

  • Der Mensch genießt den höchsten Wert in der Schöpfung. Der Koran ehrt den Menschen mit den Worten: Nun haben wir fürwahr den Kindern Adams Würde verliehen“

  • Die Gesundheit wird als eines der höchsten Gaben Gottes gesehen. Nicht dem Menschen gehört sein Körper, sondern Gott und es ist ein von Ihm anvertrautes Gut, welches zu wahren ist. Manche Gelehrte gehen so weit zu sagen, jedwede medizinische Forschung im Dienste dieses Prinzips sei eine religiöse Kollektivpflicht (fard kifāya)

  • Der Islam ermutigt die Menschen zur Betrachtung und Erforschung der Natur. Viele Verse des Koran bewegen den Leser zum Erkunden neuer Horizonte

  • Der Prophet ordnete den Menschen an, sich zu heilen wenn sie erkranken. Es wird berichtet, dass er sagte: Gott schuf keine Krankheit ohne ihre Heilung außer den Tod. Also Kinder Adams, suchet Heilung, doch verwendet keine verbotenen (ḥarām) Mittel bei der Behandlung“

 

Es besteht also eine klare Direktive für Muslime, sich im Bereich der

medizinischen Forschung zu engagieren. Was die human-embryonale

Stammzellenforschung betrifft, ist es erforderlich iǧtihād auszuüben, im

Rahmen allgemeiner Prinzipien des angewandten Rechts, die da wären:

 

  • Alle Handlungen sind grundsätzlich zulässig, solange sie keinem kategorischen Verbot unterliegen.

  • Schweigen die Quellen der Rechtsfindung, so gilt es die maṣlaḥa (das Gemeinwohl) im Lichte dieser Quellen zu ergründen, nach der Maxime: Wo das Wohl der Menschen liegt, dort liegt der Wille Gottes“

 

Die Kernfrage bei der embryonalen Stammzellforschung ist die Frage nach

dem Beginn menschlichen Lebens. Es gibt weder im Koran noch in der Sunna

eine spezifische Definition hierfür, doch einige Verse im Koran werden in der

Regel hierzu herangezogen:

 

Und wahrlich, wir erschaffen den Menschen aus reinstem Ton. Dann setzen wir ihn als Samentropfen an eine sichere Stätte. Dann machen Wir den Tropfen zu etwas, dass sich einnistet, und das sich Einnistende zu einer Leibesfrucht, und formen das Fleisch zu Gebein und bekleiden das Gebein mit Fleisch. Dann bringen Wir dies als eine weitere Schöpfung hervor. Gesegnet sei Gott, der beste Schöpfer!“

 

Und in einer anderen Übersetzung derselben Verse heißt es:

 

Nun fürwahr erschaffen Wir den Menschen aus der Essenz des Tons, und

dann lassen Wir ihn als Samentropfen in fester Verwahrung (des

Mutterleibes) bleiben, und dann erschaffen Wir aus dem Samentropfen eine

Keimzelle, und dann erschaffen Wir aus der Keimzelle einen embryonalen

Klumpen, und dann erschaffen Wir in dem embryonalen Klumpen Knochen,

und dann bekleiden Wir die Knochen mit Fleisch – und dann bringen Wir (all)

dies ins Dasein als eine neue Schöpfung: geheiligt ist daher Gott, der Beste

Handwerker!“

 

Diese Verse deuten stark daraufhin, dass die neue Schöpfung“ (Der Mensch)

erst nach einigen Phasen der embryonalen Entwicklung existiert und nicht

schon zur Zeit der Befruchtung.

 

Die muslimischen Gelehrten teilten die Entwicklung auf Grundlage dieser Verse

in die zwei Phasen ein: eine biologische und eine menschliche. Sie stimmen in

der Regel darin überein, dass das „Einhauchen der Seele“ in den Fötus den

Unterschied zwischen der biologischen Existenz nach der Befruchtung und

dem menschlichen Sein markiert. Ibn al-Qayyim (13/14 Jh.) verglich das

Wachstum und die Ernährung des Embryos vor dem Einhauchen der Seele mit

einer Pflanze. Sobald jedoch das Einhauchen der Seele erfolgt, wird es zu

einem Menschen.

 

Ein weiteres Argument für die Differenzierung von biologischer und

menschlicher Existenz ist linguistischer Natur. Das arabische Wort für Embryo

lautet ǧanīn, was so viel bedeutet wie „etwas Verborgenes“ (im Mutterleib).

Imam aš-Šāfiʿī (gest. 820), der Gründervater einer der vier Rechtsschulen

sagte, die Bezeichnung ǧanīn treffe nur nach der muḍġa-Phase (oben als

Leibesfrucht oder embryonaler Klumpen) zu.

 

Den Zeitpunkt des Einhauchens der Seele haben die Gelehrten entsprechend

folgender Überlieferung des Propheten ausgemacht:

 

Wahrlich, die Schöpfung eines jeden von Euch wird im Leibe seiner Mutter in

vierzig Tagen zusammengebracht; danach ist er ebenso lang etwas sich

einnistendes (eine Keimzelle), danach ebenso lang eine Leibesfrucht (ein

embryonaler Klumpen), (…), dann haucht ihm ein Engel die Seele ein“

 

Hieraus leiten viele Gelehrte ab, dass menschliches Leben nach 120 Tagen

beginnt. Einige wenige meinen, es seien nur 40 Tage. Sie sind sich aber alle

darin einig, dass embryonales Leben schon vor dem Einhauchen der Seele zu

respektieren ist, daraufhin mit der voranschreitenden Entwicklung zunehmend

mehr Rechte bekommt und volle Rechte mit dem Einhauchen der Seele erlangt.

 

Auf der Grundlage, dass menschliches Leben nicht vor der Beseelung besteht,

ist die überwiegende Mehrheit der Muslime und muslimischer Wissenschaftler

sich einig, dass die Forschung mit embryonalen Stammzellen zulässig ist. Die

Zulässigkeit bedingt auch, dass diese Embryonen nicht speziell für die

Forschung hergestellt werden. Überzählige Embryonen aus dem Verfahren der

in-vitro-Fertilisation (IVF) gelten als legitim. In der Regel werden mehrere

Embryos während des Verfahrens der IVF erzeugt, welches der Behandlung

von Unfruchtbarkeit eines Ehepaares dient, um den Kinderwunsch zu

unterstützen. Überzählige Embryonen sollten nach Mehrheit der Gelehrten zur

Untersuchung und für einen potenziellen therapeutischen Nutzen zur Verfügung

stehen, anstatt dass man sie sterben lässt oder zerstört.

 

Manche Gelehrte sind so zuversichtlich über den Nutzen der Forschung, dass

sie diese gar konkret zu einer kollektiven religiösen Pflicht erklären (fard

kifāya).

 

Auch wenn die oben genannten Positionen derzeit die herrschenden

Auffassungen bilden, wird immer noch über die legitime Gewinnung von

Stammzellen und entsprechenden Richtlinien zur Regulierung und Vermeidung

von Missbrauch angeregt diskutiert.

 

Die Muslime waren immer ermutigt solche wissenschaftliche Forschung zu

betreiben, die sich bei der Suche nach Heilmethoden für die Menschheit als

hilfreich erweist. Auf Grundlage der zahlreichen potenziellen Vorteile der

embryonalen Stammzellforschung erlaubt und unterstützt die islamische Lehre

daher die human-embryonale Stammzellforschung. Die Mehrheit der

muslimischen Gelehrten befürwortet weiterhin auch das therapeutische Klonen.

Voraussetzung für die Zulässigkeit ist allerdings die Verwendung überzähliger

früher Prä-Embryonen, die bei Behandlung der Unfruchtbarkeit in in-vitro-

Fertilisations-(IVF) Kliniken eingefroren und kryokonserviert werden.

 

Die frühen Prä-Embryonen sind aus islamrechtlicher Perspektive als des

Respektes würdig zu erachten, doch haben sie nicht die gleiche Heiligkeit wie

ein Embryo nach der fortgeschrittenen Implantation in die Gebärmutter und vor

allem nach dem Einhauchen der Seele.

 

Zum Therapeutischen Klonen

 

Hier sind die Meinungen der Gelehrten weiter auseinander als bei der

embryonalen Stammzellforschung. In einem Rechtsgutachten aus dem Jahre

2003 hat das in Saudi Arabien verortete Muslim World League’s Islamic

Jurisprudence Council folgendes erklärt:

 

Die Verwendung von Stammzellen ist zulässig und legitim, sowohl für die

wissenschaftliche Forschung als auch für die Therapie, so lange ihre Quellen

legitim sind, wie zum Beispiel bei Erwachsenen, wenn sie ihre Erlaubnis dazu

geben und es ihnen kein Schaden zufügt; bei Kindern mit der Erlaubnis ihrer

Erziehungsberechtigten für einen rechtlich erlaubten Nutzen, ohne ihnen Leid

zuzufügen; aus Plazenta- oder Umbilicalblut mit Erlaubnis der Eltern, bei

spontan abgebrochen Embryonen oder solchen, die für einen rechtlich

akzeptablen Grund und mit der Erlaubnis der Eltern abgebrochen wurden;

überschüssig befruchtete Eier, die im Laufe der IVF hergestellt wurden und

von den Eltern mit der Zusicherung gestiftet werden, dass sie nicht für eine

illegale Schwangerschaft verwendet werden. Die Verwendung und Erhaltung

von Stammzellen ist verboten, wenn ihr Ursprung illegitim ist, wie zum

Beispiel bei vorsätzlich abgetriebenen Föten (Abtreibung ohne

Rechtsgrundlage medizinischen Grundes); vorsätzliche Befruchtung zwischen

einer gespendeten Eizelle und einem Spermium und dem therapeutischen

Klonen“

 

Aus einer AG der Al-Azhar Universität in Kairo geht hervor, dass nicht

reproduktives Klonen islamrechtlich zulässig ist. Al-Qardawi sagte,

dass, sofern es möglich sei Organe wie etwa das Herz oder die Leber zu

klonen, wäre dies erlaubt und sogar obligatorisch.

 

Auch der Malaysian Fatwa Council erlaubt das therapeutische Klonen. Dies

trifft auch für die schiitische Rechtsprechung zu. Die Mehrheit der

muslimischen Gelehrten erlaubt therapeutisches Klonen also. Die UN

verabschiedete 2005 eine Erklärung zum Verbot menschlichem Klonens und

fasste das therapeutische Klonen dazu. Diese Erklärung wurde nur von 24

Staaten mit muslimischer Mehrheitsbevölkerung getragen.

 

Abschließendes

 

Viele muslimische Länder verfügen nicht über die notwendige Infrastruktur
 

und stehen vor dem Problem der Finanzierung solcher Projekte. Das ethische

Dilemma dreht sich praktisch eher um die Begründung und Zuweisung dieses

Sektors angesichts der vorhandenen knappen Ressourcen im

Gesundheitswesen allgemein. Die Frage in diesen Ländern ist also vielmehr

die, ob es akzeptabel ist in langfristige medizinische Forschung zu investieren,

statt dringenden medizinischen Bedarf zu gewähren.

 

Dennoch gibt es Initiativen zur Behandlung bioethischer Fragestellungen. Um

dem iǧtihād gerecht zu werden, wurden interdisziplinäre Konferenzen gehalten

und Gesellschaften gegründet, die bei den bioethischen Fragestellungen – wie

etwa der Stammzellforschung - zu angemessenen Positionen zu gelangen

versuchen,

 

  • The Islamic Organization for Medical sciences (IOMS), Kuwait, 1980er Jahre

  • Yusuf al-Qardawi

  • Society for Islamic Medical Sciences in Jordanien

  • Die al-Azhar Universität in Ägypten

  • Muslim World League’s Islamic Jurisprudence Council, Fatwa, 2003

  • Fiqh Council of North America

  • The Islamic Medical Association of North America

  • Islamic Institute of Turkey

  • The Malaysian Fatwa Council

 

Bacem Dziri

 

Das vorliegende Skript ist eine, bezogen auf die islamrechtlichen Positionen

zur Stammzellforschung auf Deutsch, zusammengefasste und nur geringfügig

veränderte Wiedergabe des Artikels „Developments in Stem Cell Research and

Therapeutic Cloning: Islamic Ethical Positions, A Review“, von von Hossam E.

Fadel, erschienen in Bioethics am 6.10.2010. Bei der Beurteilung des

Sachverhaltes sollte man sehr vorsichtig sein, doch mag das vorliegende Skript

Interessierten schon mal einen Einblick vermitteln.