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„Der Poet des Ostens“ - Erinnerungen an Muhammad Iqbal (1877-1938)
Bismillah
„Der Poet des Ostens“, Allama Muhammad Iqbal, sagte:
Der wissenschaftliche Beobachter der Natur ist eine Art mystischer Sucher im Akt des Gebets
In diesem Satz wird nicht weniger ausgedrückt als die wichtigste Triebfeder, die Quintessenz der Wissenschaft im Islam durch die Jahrhunderte – die natürliche Welt, alles Geschaffene, existiert nicht grundlos, sondern lässt für sich allein und im Zusammenwirken mit anderem das Werk ihres Schöpfers erkennen; wer der ausdrücklichen Anweisung Allahs folgend über die Schöpfung nachdenkt und im Rahmen menschlichen Vermögens danach trachtet, diese wahrhaft zu begreifen, der betreibt Gottesdienst.
Allama Iqbal hat dieses islamische Verständnis der Wissenschaft praktiziert und selbst verkörpert, und er bleibt in seinem Leben und Werk bis heute ein Vorbild für muslimische Studierende. Ein Vorbild, unabhängig davon wo man studiert oder welches Fach. Iqbal verkörpert das Ideal des Universalgelehrten, der sich in verschiedenen Disziplinen bewährt und versteht, dass alle Bereiche von Wissenschaft und Forschung Berührungspunkte zueinander haben. Ausdrücklich schließt das Philosophie und Mystik, Poesie und Kunst mit ein, die keinen Gegensatz zu den akademischen Wissenschaften darstellen sondern mit entsprechendem Verständnis praktiziert in einem harmonischen Ganzen mit ihnen vereint sind.
Und noch in einer anderen Hinsicht verkörpert Iqbal ein Ideal von Bildung und Wissenschaft – seine Studien, sein gesamtes Intellektuelles schaffen waren kein Selbstzweck, waren nie beschränkt auf einen akademischen Elfenbeinturm. Das Ziel seiner Bildung war Handeln; er nahm Anteil an den Problemen seiner Zeit, von denen das Bestimmende die Befreiung Indiens vom Kolonialismus war und die Frage, wie eine künftige staatliche und gesellschaftliche Ordnung aussehen könnte. Seine Gedanken und Betrachtungen zu Politik, zur Natur menschlichen Zusammenlebens, zum Islam dienten dem Zweck, bei der Entstehung eines stabilen, gerechten Gemeinwesen zu helfen, dass wiederum in den größeren Kontext muslimischer Gemeinschaft stand. Bei seinen Reisen nach Ägypten, Persien, Afghanistan und die Türkei suchte er die spirituelle und emotionale Einheit der Muslime zu fördern ohne die unmittelbaren lokalen Aufgaben aus dem Auge zu verlieren.
Und schließlich legen Iqbals Leben und Werk Zeugnis darüber ab, dass es keinen Abbruch der wissenschaftlichen und intellektuellen Tradition des Islam gibt, wie sie oft beschworen wird. Muslime und Nichtmuslime gleichermaßen verharren in der nostalgisch verklärten Betrachtung einer bestimmten geschichtlichen Epoche als „goldenes Zeitalter“ und lassen die geistigen Errungenschaften späterer Zeiten dem vergessen Anheim fallen.
Noch schlimmer, noch schädlicher ist allein die aus einer pervertierten Form der Vergangenheitsverehrung entstehende Praxis, überhaupt jede Form der geistigen und materiellen Entwicklung seit den ersten Generationen der Muslime zu verwerfen und sie in die Nähe einer Abweichung von der islamischen Lehre zu rücken.
Iqbal ist Beispiel, wie unzählige andere vor und nach ihm, dass gerade ein Verstand und ein Charakter, der fest in der Anbetung Gottes und in der islamischen Glaubens- und Lebenspraxis verankert ist, dynamisch und aufnahmefähig sein muss. Iqbal zu verstehen, seinem Beispiel zu folgen und sein Vermächtnis zu bewahren heißt vereinfacht, al-Ghazali und Ibn Sina ebenso zu studieren wie Goethe und Nietzsche. Noch wichtiger als das Bewahren aber ist das Weiterführen – Allama Iqbal hat vor über 100 Jahren den Beweis erbracht, dass nach wie vor muslimische Denker unschätzbare Beiträge zum gemeinsamen wissenschaftlichen, philosophischen und künstlerischen Erbe der ganzen Menschheit beitragen.
Zu Deutschland hatte Allama Iqbal eine besondere Beziehung. Ein Blick in die Stadtgeschichte Heidelbergs, Deutschlands ältester Universität, offenbart: Kein geringerer als eben Muhammad Iqbal, hatte sich vor mehr als einhundert Jahren auf seiner Reise durch Europa ausgerechnet in der Stadt am Ufer des Neckars niedergelassen, um sich intensiv mit der deutschen Sprache und Geisteskultur auseinanderzusetzen. Seine Faszination galt den deutschen Dichtern und Denkern, wobei er eine besondere Verehrung für Goethe entwickelte und die Kühnheit besaß, eine poetische Antwort auf Goethes West-Östlichen Diwan zu formulieren. Seine Erlebnisse in Deutschland hatten zweifelsohne einen nachhaltigen Einfluss auf seine späteren Werke, die großen Widerhall in der islamischen Welt fanden. Seine Liebe zu der wunderschönen Stadt Heidelberg verewigte er in seiner unnachahmlichen Dichtkunst. Heute legen das nach ihm benannte Iqbal-Ufer und das Allama Iqbal Professorial Fellowship der Universität Zeugnis über die besondere Verbundenheit zwischen Pakistans Nationaldichter und Deutschlands ältester Universitätsstadt ab.
Und doch ist Muhammad Iqbal den wenigsten Heidelberger Bürgern und Studierenden ein Begriff. Es lag deshalb auf der Hand, dass wir als Muslimische Studierendengruppe es uns zur Aufgabe machen mussten, diesen fast vergessenen Aspekt unserer Stadtgeschichte wiederzuentdecken und einer breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen.
Die Auseinandersetzung mit Iqbal regte auch zu der Überlegung an, wie es eigentlich sein konnte, dass diese Geschichte einer frühen Begegnung mit dem Islam in Deutschland – wie so viele andere – in Vergessenheit geraten konnte?
Eine Ursache liegt darin, dass es uns als Muslime in Deutschland an ein kollektives Bewusstsein über ein gemeinsames historisch-kulturelles Erbe fehlt, woraus sich unsere muslimische Identität in Deutschland speisen würde, die wiederum über alle ethnischen Grenzen hinweg uns als eine Glaubensgemeinschaft in Deutschland vereinen würde. Was fehlt ist die Herausbildung einer gemeinsamen Identität der in Deutschland lebenden Muslime, die noch dazu in den deutschen Kontext eingebettet ist.
Tatsache ist, dass religiöses Leben auch heute noch fast ausschließlich im soziokulturellen Milieu des jeweiligen Herkunftslandes abspielt. Zu oft haben wir unter muslimischer Identität vordergründig das verstanden, was uns mit den Ländern unserer Eltern und Großeltern verbindet. Zu selten haben wir uns selbst die Frage gestellt, ob es eine muslimische Identität gibt, die uns einerseits untereinander als deutsche Muslime, andererseits aber auch uns mit Deutschland als unsere Heimat verbindet.
Ein wichtiger Schritt zur Herausbildung einer gemeinsamen deutsch-muslimischen Identität wäre es deshalb, sich aktiv mit der Geschichte von muslimischem Leben in Deutschland auseinanderzusetzen. Diese Geschichte beinhaltet zweifelsohne auch die der Gastarbeiter. Sie darf sich aber nicht darauf beschränken. Und schon gar nicht ist sie der Beginn unserer Geschichte. Begegnungen mit dem Islam und mit Muslimen fanden schon viel früher auf deutschem Boden statt, als wir es sogar selbst vermuten würden.
Es liegt an uns. Wir müssen uns nur aktiv auf Spurensuche begeben. Es gilt dabei, die Ereignisse wieder zu erzählen, die islamische Kultur in Deutschland erfahrbar gemacht haben. Es gilt die Orte aufsuchen, die Zeugnis über besondere Begegnungen mit dem Islam in Deutschland ablegen. Und es gilt die Lebensgeschichten derjenigen Menschen wiederentdecken, die den Brückenschlag zwischen der islamischen und westlichen Welt gewagt haben und so transkulturelle Pionierarbeit geleistet haben. Aus der Geschichte speist sich Tradition und aus Tradition entwickelt sich Identität.
Einen Anfang kann jeder vor Ort in seiner Stadt machen. „Was verbindet meine muslimische Identität mit meiner Stadt?“ war auch die Frage, die im Raume stand, als wir uns als Muslimische Studierendengruppe Heidelberg vor knapp einem Jahr auf Spurensuche begaben.
Wenn vom 25.-30. April 2014 unsere altehrwürdige Universität Heidelberg die Besucher zum Abschluss des Muhammad-Iqbal-Gedenkjahres 2013/14 begrüßen wird inschallah, findet diese Spurensuche ihren vorläufigen Höhepunkt.
Aber sie geht weiter. Muslimische Spuren in der Geschichte finden sich überall in Deutschland. Wir müssen uns nur darum bemühen, diese Schätze zu heben und ans Tageslicht zu fördern.
Bleibt zu hoffen, dass Muslime auch anderswo in Deutschland aktiv sich mit ihrer Geschichte auseinandersetzen und Ereignisse, Orte und Menschen entdecken, die Teil unseres historisch-kulturellen Erbes ausmachen. Mögen wir als Muslime Iqbals Beispiel folgend und Vermächtnis bewahrend danach bestrebt sein, nicht nur das eigene geistige Erbe stetig zu mehren und zu entwickeln, sondern auch das Bereichernde anderer Traditionen, Religionen und Kulturen uns anzueignen und daraus Nutzen zu ziehen.
In diesem Sinne wünschen euch der Vorstand des RAMSA und die MSG Heidelberg einen gesegneten Freitag und ein schönes Wochenende.
Kaan Orhon ist RAMSA-Vizepräsident und Islamwissenschaftler aus Göttingen
Fadil Minden ist Vorsitzender der MSG Heidelberg