Gedanke zum Freitag

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"Der Weg der Mitte"

Kaan Orhon
15.01.2016

Bismillah
Gedanke zum Freitag:
Heute von Kaan Orhon, RAMSA-Vizepräsident und Islamwissenschaftler aus Göttingen

Der Gesandte Allahs - Segen und Frieden auf ihm – sagte:
„Dieser Glaube ist gewiss einfach. Kein Mensch soll sich in Extremen verlieren, was die Angelegenheiten des Glaubens anbelangt, sonst wird ihn die Religion überwältigen“ (Bukhari)

Die Beschreibung des Islam als die Religion der Mitte oder der Weg der Mitte ist vielen geläufig. Oft auch der konkreten Verbindung mit obiger Überlieferung des Gottgesandten, Segen und Frieden auf ihm.

Seine Ermahnung lässt sich auf verschiedenen Ebenen verstehen und anwenden. Für das Individuum ebenso wie für Gruppen oder Gesellschaften.
Als Einzelner muss ich die Mitte finden zwischen Vernachlässigung der religiösen Pflichten und der Übertreibung darin, die beide schädlich sind.  
Das gleiche gilt für Gruppen, Parteien, Rechtsschulen etc. Legitime Unterschiede und Meinungsverschiedenheiten sollten akzeptiert und nicht verwischt und verschwiegen werden, aber auch nicht so weit getrieben werden, dass sie zur Grundlage von Ausgrenzung und Spaltung werden.

Zu den wertvollen Eigenschaften der religiösen Fundamente des Islam, der Worte Allahs, des Erhabenen im Quran ebenso wie den Überlieferungen Seines Gesandten – Segen und Frieden auf ihm – gehört, dass sie auch Wegweiser in Angelegenheiten sind, die auf den ersten Blick nichts mit der Religion zu tun haben.

Was also sagt uns dieser Hadith im Hinblick auf die gegenwärtigen Zustände in unserem Land aber auch darüber hinaus. Die Aussage die Gesellschaft sein polarisiert ist eine viel genutzte Phrase, aber leider nicht falsch. Das Jahr 2016 ist erst zwei Wochen alt, aber was in diesen passiert ist, formuliert bereits Herausforderungen, Gefahren aber auch Chancen. Die abartigen Vorfälle von Köln und anderswo in Deutschland und die Seuche des Terrorismus im Ausland werden – ebenso sachlich falsch wie vorsätzlich – vermengt und aufbereitet und schaffen die Grundlage zu einem Angriff auf die Gesellschaft durch Extremisten, die leider nicht die Aufmerksamkeit und Presse bekommen, die sie verdient hätten. Mobs von Rassisten und Ideologen verschiedener Couleur „patrouilliert“ in den Straßen – oder noch mehr als dass: in Leipzig haben extremistische Gewalttäter ihrem Hass freien Lauf gelassen und im links geprägten Stadtteil Connewitz eine Schneise der Verwüstung geschlagen. Auch dies ein unerträglicher Übergriff und Angriff auf die Gesellschaft als Ganzes.

Zu einem großen Teil ist der Hass gegen Muslime das einigende Band besagter Extremisten, die eigentlich einer Vielzahl von Splittergruppen angehören. Gegen Muslime vor allem richtet sich die Hetze die sie ausspeien, auf ihrem Aufmärschen ebenso wie im Internet. Was also ist die angemessene Reaktion für Muslime?
Das gegnerische Extrem spielen? Sicher nicht, auch wenn einige dies leider schon getan haben. In ihren Reaktionen auf die Ereignisse der letzten Tage und Wochen haben Einzelne, die hier namenlos bleiben sollen, die bekannten ideologischen Wagenburgen gebaut. Alle anderen sind Schuld: der Staat, der Alkohol nicht verbietet und überhaupt schlecht ist und „gegen die Muslime“, die Frauen, die anderen Muslime, die Mehrheitsgesellschaft…
Bald wird vielleicht die „Scharia-Polizei“ aus dem Mülleimer der Boulevard-Presse, in den sie gehört, hervorgeholt und die unnötige aber auch übermäßig aufgeblasene PR- Aktion einer unbedeutenden Splittergruppe wird ihr Haupt als etwas anderes, viel bösartigeres erheben, als eine „muslimische“ Version der islamfeindlichen „Bürgerwehren“.

Beide werden dann mit dem Finger aufeinander zeigend an den extremen Rändern der Gesellschaft stehend, alle die nicht zu ihnen gehören im feindlichen Lager verortend. Irgendwann wird dann der unvermeidliche Schritt von der verbalen und virtuellen Auseinandersetzung zur Gewalt gegangen werden, und die Leidtragenden werden Unbeteiligte sein, die Mehrheit der Gesellschaft, die keinem der beiden Lager eingehört.

Die angemessene Position im Angesicht stärker werdender extremer Ränder ist die Mitte, in diesem Fall der Gesellschaft. Es ist bedauerlich, dass dabei hervorgehoben werden muss, dass dies keine Frage der Treue zum eigenen Glauben ist. Immer wieder sondern Menschen, auch hier im Kommentarbereich, Aussagen ab wie dass es die Muslime spaltet, wenn man Extremisten zurückweißt. Sie verstehen die Position der Mitte als die Mitte zwischen Islam und allem anderen, also als ein verlassen der „islamischen Position“, was immer diese sein soll, als halben Glaubensabfall. So falsch dieses Denken ist, so schwierig ist es manchen Menschen zu vermitteln.

Einen Weg der Mitte beschreiten ist schwierig. Sich auf eine extreme Position zurück zu ziehen, auf Schwarz und Weiß, Gut gegen Böse, ist dagegen sehr einfach. Der Weg der Mitte bedeutet anzuerkennen, dass es auf die meisten wichtigen Fragen, mit denen unsere Gesellschaft konfrontiert ist, keine einfachen Antworten gibt. Dass die Überwindung gesellschaftlicher Übel – Rassismus, Antisemitismus, Sexismus – nicht auf Knopfdruck geschieht sondern ein oft schwieriger und langwieriger Prozess ist. Das man nur antimuslimischen Rassismus oder nur religiösen Extremismus unter Muslimen beklagen und bekämpfen kann, weil man damit bei einer bestimmten Klientel gut ankommt, sondern dass beides parallel laufen muss, weil es sich um zwei Seiten der selben Münze handelt. Dass man extremistische Gruppen und Bewegungen zwar bekämpfen muss, aber auch berücksichtigt, dass es für viele Menschen, die sich im Fahrwasser solcher Gruppen bewegen, auch einen Weg zurück in die Gesellschaft gibt und daher manchmal Hilfe anstatt Widerstand gefragt ist. Und noch so vieles mehr.
Obwohl es manchmal anders scheint, ist eben der Weg der Mitte derjenige, der am schwierigsten zu gehen ist. Aber es ist der gerade Weg, der, den wir gemeinsam gehen müssen.

In diesem Sinne wünscht euch der Vorstand des RAMSA einen gesegneten Freitag und ein schönes Wochenende.