Sie sind hier

"In den Spiegel sehen" - Gedanke zum Freitag

Kaan Orhon
19.12.2014

Bismillah

Gedanke zum Freitag
Heute von: Kaan Orhon, RAMSA-Vizepräsident und Islamwissenschaftler aus Göttingen

Allah der Erhabene sagt in Seinem Buch in der ungefähren Übersetzung:

„Denn nicht die Blicke sind blind, sondern blind sind die Herzen, die in den Brüsten sind.“
((al-Hajj:46))

Gegen die Islamisierung des Abendlandes marschieren Tausende Woche für Woche durch Dresden und Gott sei Dank deutlich weniger durch andere Städte. Wer von den immer neuen und dabei immer gleichen Islamdebatten noch nicht zu abgestumpft ist, möchte sich die Haare ausreißen und schreien: „Welche, verdammt nochmal welche Islamisierung?“ Während Pegida warnt, bald käme in Deutschland der Kopftuchzwang, existieren für qualifizierte muslimische Frauen in manchen Feldern noch immer de-facto Berufsverbote; während der Bau von immer neuen „Mega-Moscheen“ verurteilt wird, beten noch immer Menschen in umgebauten Geschäften, 250 wo 100 erlaubt sind, beten muslimische Studenten in ihren Universitäten unter Kellertreppen.

Derzeit kursiert das Foto einer Anzeigetafel bei facebook & Co., auf der zu lesen ist, das stolze 0,4% der sächsischen Bevölkerung Muslime sind (womit noch nichts über den Grad der persönlichen Religiosität oder über Konfession, Rechtsschule und politische Ansichten gesagt ist). Vielleicht sind die sächsischen Muslime aus irgendeinem Grund besonders bedrohlich? Vielleicht ist es aber auch nur wieder ein Beweis für die Faustregel, dass die Angst vor Muslimen wie generell vor allen/allem Fremden dort am größten ist, wo am wenigsten davon zu finden sind.

In jedem Fall ist es ein Beweis dafür, dass Phänomenen wie Pegida, HoGeSa und all den anderen dümmlichen Abkürzungen nicht mit Zahlen, Daten und Fakten beizukommen ist. Man könnte jedem einzelnen der 10.000 Demonstranten diese Statistik auf einem Blatt Papier in die Hand geben – sie würden die selben Buchstaben und Zahlen lesen wie alle anderen, aber es würde nichts bedeuten. Nicht die Blicke sind blind… Sadaq Allahu l-`Adheem.

So bedauerlich, auch gefährlich, dieses Phänomen ist, gefährlicher noch ist diese Blindheit, die überall zu finden und ansteckend ist. Ein konkretes Beispiel ist der Umgang mit bzw. die Reaktion auf Medien. Bei Pegida lautet die Order, nicht mit Journalisten zu sprechen. „Die“ Medien, gerne noch erweitert zu „Systemmedien“, so lautet ein Klotz aus dem Ideologiebaukasten der Pegida-Marschierer, sind alle unterwandert, gleichgeschaltet von Muslimen, Grünen, Linken. Ihr Ziel sei, die „Bewegung“ zu diskreditieren, in eine rechtsextreme Ecke zu stellen, in die sie ja gar nicht gehöre, sie schlecht zu machen, damit sich nicht noch mehr Menschen anschließen. Man spricht von „Totschlagargumenten“ und „Nazi-Keule“.

Solche Aussagen im Hinterkopf macht es ein ungutes Gefühl zu lesen, wie nach dem letzten Pegida Aufmarsch verschiedentlich im Internet, solche Bewegungen entstünden, weil „die Medien“ gegen die Muslime hetzten. Also sind „die Medien“ keine Gegner der Pegida und versuchen sie auch nicht in die rechte Ecke zu drängen, sondern sind im Gegenteil auch Teil einer anti-muslimischen Mehrheitsgesellschaft, die die Muslime dämonisieren, um Auflage zu machen? Die Debatte, auf wessen Seite „die Medien“ eigentlich sind, ähnelt sehr den Überzeugungen gewalttätiger Demonstranten aus verschiedenen politischen Lagern, auf wessen Seite die Polizei steht: immer auf der Seite des anderen.

Sich selbst als eine Insel der Rechtschaffenheit zu sehen, umgeben von einem Meer aus Feinden, ist das Wesen dieser Blindheit. Alle sind gegen uns, wer nicht „wir“ ist, ist der Feind und der Feind ist auch für all unsere Probleme verantwortlich. Ja, es gibt die Spiegel-Titelblätter und die unbequemen (Un-)Wahrheiten des Focus, die BILD und die WELT mit ihrem erklärten Feindbild. Aber das ist keine Ausrede, sich eine Mauer im Kopf zu bauen. Es gibt genug Stimmen in allen Formen von Medien, die dem entgegenwirken, und wenn es nicht genug gibt, ist es unsere Schuld und nicht die der bösen anderen.

Wenn einen an „den Medien“ etwas stört, kann man – gerade in diesen Zeiten – selber Medien machen oder mindestens andere Medien finden und unterstützen. Desgleichen für andere Bereiche der Gesellschaft: es steht jedem offen, sich politisch zu engagieren oder z.B. im Bildungsbereich oder im Polizeidienst, anstatt nur ewig die Mängel in diesen und anderen Bereichen zu beklagen und in Selbstmitleid zu zerfließen, weil die böse Gesellschaft es den Muslimen so schwer macht.

Gott sei Dank gibt es Pioniere, die trotz realer Schwierigkeiten in allen Bereichen der Gesellschaft aktiv sind. Medienschaffende, Politiker, ehrenamtlich Aktive leisten tagtäglich konkrete, wichtige Arbeit und schaffen Resultate von denen nicht nur die Muslime sondern die Gesellschaft als Ganzes profitieren. Um ein konkretes Beispiel zu nennen, welches viele RAMSA-Mitglieder engagiert unterstützt haben: das Studienförderungswerk Avicenna ist eine Errungenschaft, von der so Allah will ungezählte junge Menschen über Generationen profitieren und später der Gesellschaft etwas zurückgeben werden. Und das ist nur ein Beispiel von vielen.

So etwas kann man nur schaffen, wenn das eigene Herz nicht blind ist, wenn man die Welt und Gesellschaft in der man lebt als das erkennt und annimmt, was sie ist, mit ihren Fehlern und ihren Möglichkeiten, und andere Menschen, auch oder gerade dann, wenn sie nicht in allem auf der selben Linie sind wie man selbst, nicht als Teil einer amorphen feindseligen Masse begreift, die einem Schlechtes will. Die andere Möglichkeit ist sich zu vergraben in kruden Theorien über den Westen, die Juden und das nahende Unheil für die Muslime. Dann sind wir genauso blind wie die vermeintlichen Retter des Abendlandes.

Ja, deren Massenaufmärsche und die Krawalle der Hooligans sind Grund zur Sorge, ja, Berichterstattung über Islam und Muslime ist immer wieder ärgerlich – aber es ist möglich andere Wege zu beschreiten und die Umstände zu verändern. Wenn wir uns fragen, warum sich nichts ändert, sollten wir zuerst in den Spiegel schauen. Wenn wir nicht blind sind.

In diesem Sinne wünscht euch der Vorstand des RAMSA einen gesegneten Freitag und ein schönes Wochenende.