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Post Factual
Bismillah
Gedanke zum Freitag
Allah der Erhabene sagt in seinem Buch in der ungefähren Übersetzung:
„O die ihr glaubt, seid Wahrer der Gerechtigkeit, Zeugen für Allah, auch wenn es gegen euch selbst oder die Eltern und nächsten Verwandten sein sollte! Ob der Betreffende reich oder arm ist, so steht Allah beiden näher. Darum folgt nicht der Neigung, daß ihr nicht gerecht handelt! Wenn ihr die Wahrheit verdreht oder euch davon abwendet, gewiß, so ist Allah dessen, was ihr tut, kundig.“
((an-Nisa:135))
Nicht erst seit den Präsidentschaftswahlen in den USA kursiert der Begriff der „post-factual“ oder „post-truth politics“, als eine Form von Politik aber auch gesellschaftlicher Debatte, in der Wahrheit kein objektiver Zustand mehr ist, der durch Untersuchen und Überdenken einer bestimmten Tatsache erfahren werden kann, sondern Wahrheit subjektiv von den Emotionen und Überzeugungen eines Einzelnen oder einer Gruppe bestimmt wird.
Wenn man selbst überzeugt ist, dass alles immer schlechter wird, die Kriminalität steigt, die Wirtschaft zusammenbricht, man „überfremdet“ wird, dann ist dies die Wahrheit, auch wenn die Fakten in einer bestimmten Frage etwas Anderes aussagen.
Neben den US-Wahlen, der Brexit-Abstimmung und weiteren politischen Abläufen in anderen Ländern, wird der Begriff auch auf Positionen und Inhalte von Parteien und Gruppen in Deutschland angewandt. Einer der Schwerpunkte dabei ist die Diskussion um Geflüchtete.
Aus islamischer Perspektive kann es keinen Kompromiss bei Wahrheit als absoluten Wert geben. Wahrheit und Falschheit sind klar unterschieden. Das heißt allerdings keineswegs, dass sie immer auch sofort offenkundig sind. Wahrheitssuche ist unsere Verantwortung: die unvoreingenommene Betrachtung von Dingen, das Gebrauchen unseres Verstandes und das Lernen von jenen, die in einer Angelegenheit Wissen besitzen. Uns obliegt das Ergründen der Wahrheit soweit es uns möglich ist und das Beharren auf dieser. Auch dann, wenn einem in einer bestimmten Frage die Tatsachen nicht gefallen. Die „emotionale Wahrheit“, die der eigenen Neigung entspricht, darf nicht zum Ersatz für eine Realität aufgebaut werden, vor der wir die Augen verschließen.
Letzteres ist oft leichter und angenehmer: die Realität ist komplex, gefühlte Wahrheiten sind einfach und moralisch eindeutig. Sie stellen sich von selbst ein und werden oft durch das eigene Umfeld konstant bestärkt. Die Suche nach Wahrheit kann manchmal ermüdend und unbefriedigend sein und es erfordern, vorgezeichnete Wege zu verlassen und sich gegen die Meinung der eigenen Freunde und Weggefährten zu stellen. Nicht umsonst wird in der Sure al-Asr das Anhalten zur Wahrheit in einem Atemzug genannt mit dem Anhalten zur Geduld. Wir bedürfen beidem in der Auseinandersetzung mit der Welt in der wir leben.
In diesem Sinne wünscht euch der Vorstand des RAMSA einen gesegneten Freitag und ein schönes Wochenende.
Heute von: Kaan Orhon, Islamwissenschaftler aus Göttingen und Mitglied des Ältestenrates