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Timing ist alles - ein Interview mit Miguel Vicente

07.03.2012

Was könnte für mehr Furore sorgen als Zahlen zu integrationsunwilligen Muslimen in Deutschland? Der potentielle Austritt Griechenlands aus der EU, die Medienaffäre des Bundespräsidenten oder doch die horrenden terroristischen Nazi-Morde der vergangenen Jahre? Offenbar scheint Letzteres nicht lange auf Titelseiten zu rangieren, da Akteure, wie der selbsternannte Studienexperte Thilo Sarrazin mit ihren z.T. kruden Theorien enormen Zuspruch in der Bevölkerung erzielen. So schaffte es auch die X-te Islamstudie aus dem Stand sich als simplifizierter Aufhänger mit restriktiv negativem Interpretationsrahmen im Boulevard zu positionieren. Zum Nachteil des sozialen Friedens und des gesellschaftlichen Zusammenhaltes.

In einem Interview mit dem RAMSA erklärt Miguel Vicente, der rheinlandpfälzische Landesbeauftragte für Integration und Migration, was das „richtige Timing“ bei der Veröffentlichung der Integrationsstudie für eine neue Brisanz entfacht hat.

 

RAMSA: Herr Vicente, die Bild-Zeitung hat es mit Bravur geschafft eine eineinhalb Jahre lange dauernde Forschungsarbeit von einem Team aus Psychologen, Soziologen und Kommunikationswissenschaftlern, die akribisch geforscht haben, wie es um die jungen Muslime in Deutschland steht, auf eine einzige Schlagzeile zu dezimieren. Wohlgemerkt als Erster mit der Freigabe durch das Bundesinnenministerium selbst, welches die Studie in Auftrag gab. Wie bewerten Sie den Umgang des Bundesministeriums des Inneren mit dieser Studie?

 

Miguel Vicente: Ich finde, der Vorgang zu dieser Studie war mehr als unglücklich. Ein Bundesinnenminister sollte wissen, dass all die Themen, die mit dem Islam zu tun haben und insbesondere Studien, die sich mit der Haltung von Muslimen zur Gewaltbereitschaft, zu Fanatismus beschäftigen, sehr brisante Informationen sind. Man muss dafür Sorge tragen, dass diese in einer Art und Weise der Öffentlichkeit vorgestellt werden, die seriös ist, die die Ergebnisse der Studie differenziert darstellt und dafür Sorge trägt, dass nicht vorab die Medien, in dem Fall die Bild-Zeitung, davon erfährt und dann natürlich reißerisch, wie die Bild-Zeitung eben agiert, die Dinge darstellt. Das hat sehr geschadet. Ich denke, das sollte der Bundesinnenminister in Zukunft mit mehr Sensibilität angehen.

 

RAMSA: In der Bild-Zeitung hieß die Schlagzeile, dass die Studie belegt habe, dass „jeder fünfte Muslim sich in Deutschland nicht integrieren“ wolle. Daraufhin erwiderte der Innenminister Friedrich in einem Zeitungsbericht mit den Worten: „Wer Freiheit und Demokratie bekämpft, wird hier keine Zukunft haben“. Was geht in Ihnen vor, wenn Sie vom Bundesinnenminister diese Zeilen lesen?

 

Miguel Vicente: Diese Äußerung ist genauso undifferenziert, wie die ersten Berichte in der Bild-Zeitung. Man muss jetzt aber dazu sagen, dass einige Tage vergangen sind. Inzwischen haben die Medien doch viel differenzierter darüber berichtet. Man hat auch diejenigen gefragt, die die Studie geführt haben, die selbst verärgert waren über die Art und Weise der Veröffentlichung in den ersten Tagen. Aber ich glaube, sie sind inzwischen etwas differenzierter. Auch der Bundesinnenminister Friedrich hat in den weiteren Äußerungen die ersten Aussagen, die sehr zugespitzt waren, etwas relativiert. Immerhin muss ich sagen! Aber wir müssen daraus lernen mit solchen Themen sensibler umzugehen und uns dann auch die Zeit nehmen solche Äußerungen, wie z. B. das „jeder fünfte gewaltbereit ist oder sich nicht integrieren will“, auch wirklich zu interpretieren. Denn selbst die Autoren der Studie sagen, dass man das nicht überinterpretieren solle und dürfe. Das sind Aussagen, bei welchen man erst einmal verstehen muss, was genau dahinter steckt. Und das ist eben nicht passiert, wenn man frühzeitig einfach solche Schlagzeilen erzeugt, die im Grunde dann den Islam vorverurteilen. Das bringt uns nicht weiter.

 

RAMSA: Interessant ist auch der Zeitpunkt der Veröffentlichung. Nämlich kaum eine Woche nach der groß inszenierten Gedenkfeier an die Opfer der rechtsextremen Morde. Welchen Eindruck vermittelt es Ihnen?

 

Miguel Vicente: Ja, ich glaube der Zeitpunkt ist sehr unglücklich. Wir waren jetzt dabei diese rechtsextremistischen Morde aufzubereiten und die Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Doch kaum eine Woche war vergangen, wird der Blick auf die Muslime gerichtet und auf die vermeintliche Gefahr, die von Ihnen ausgeht. Ich glaube, das ist absolut der falsche Zeitpunkt gewesen. Ich habe dem Bundesinnenminister vorgeschlagen, dass er lieber hätte warten sollen, denn in den nächsten Wochen findet die Islamkonferenz statt, zu der er als Bundesinnenminister einlädt. Es wäre besser gewesen die Studie dort vorzustellen. Wenn im Gespräch und in Diskussion mit den muslimischen Verbänden gemeinsam in die Öffentlichkeit gegangen worden wäre, das wäre die richtige Vorgehensweise gewesen. So ist zunächst ein ziemlicher Schaden angerichtet worden.

 

RAMSA: Die Mitarbeiter der Studie beklagen "eine völlige Verfälschung der Ergebnisse" durch Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich. Die Wissenschaftler der Studie halten außerdem, aufgrund der völligen Verfälschung und Fehldeutung des Resümees und der daraus folgenden Polemik seitens der Bild-Zeitung, keine weiteren Studien mehr für nötig. Herr Vicente, ist die Notwendigkeit dieser Studie in Frage zu stellen?

 

Miguel Vicente: Man kann schon darüber diskutieren, inwieweit solch eine Studie notwendig ist, denn sie hat ein bisschen den Nebengeschmack, das man Muslime unterstellt, tendenziell eine größere Gewaltbereitschaft und eine antidemokratische Haltung zu haben als andere. Das ist nicht der Fall. Das wissen wir. Wir haben insgesamt in der Bevölkerung extremistische Haltungen als auch Demokratiefeindlichkeit. Das ist kein Thema oder eine Eigenschaft von Muslimen. Insofern kann man grundsätzlich eine solche Studie in Frage stellen. Aber wenn sie schon existiert, dann muss man sich die Mühe machen, diese differenzierte Studie genauer zu lesen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wenn in der Studie steht, dass ein Viertel der Muslime beziehungsweise der jungen Muslime, denn es ist immer die Rede von jungen Muslimen, die sich nicht integrieren wollen, dann reden wir doch in erster Linie von denjenigen Muslimen, die hier geboren sind. Das sind deutsche Muslime! Und wenn sie sagen, sie stehen eher zur Herkunftskultur als zur deutschen Kultur, dann ist das doch nur ein Zeichen des Protestes, weil sie sich insbesondere als Muslime nicht akzeptiert, gar diskriminiert fühlen. Dann erst kommen solche Äußerungen. Das heißt aber nicht, dass sie sich von Deutschland, von unserer demokratischen Rechtsordnung abwenden! Sondern das ist ein Zeichen des Protestes. Das sollten wir wahrnehmen und nichts anderes.

 

RAMSA: Der CSU-Politiker Hans-Peter Uhl zeigte sich ebenfalls sehr besorgt über die Ergebnisse der Integrationsstudie und verlangt deshalb einen Integrationsnachweis. Dazu gehörten ausreichende Sprachkenntnisse und Grundkenntnisse über den deutschen Staat und seine Geschichte. Ist diese Forderung Ihrer Ansicht nach nachvollziehbar und gibt es für Sie auch Aspekte der Integrationswilligkeit?

 

Miguel Vicente: Also, die Frage ist die: ob man Integrationsunwilligkeit überhaupt messen kann? Das halte ich für eine Geisterdebatte. Ich glaube nicht, dass man so etwas messen kann. Kommen wir zum vorherigen Beispiel: Wenn ein Muslim sagt, dass er sich eher von der Herkunftskultur angezogen fühlt und weniger von der deutschen, aber perfekt deutsch spricht, beruflich integriert ist, sich vielleicht gesellschaftspolitisch engagiert, dann kann ich doch nicht sagen, dass diese Person integrationsunwillig ist! Sondern das ist eine Aussage darüber, dass man als türkischstämmiger oder als Muslim das Gefühl hat, nicht akzeptiert zu werden und dadurch eine gewisse Protesthaltung einnimmt. Aber das hat mit der Integrationsunwilligkeit nichts zu tun. Wir müssen aufpassen, welche Begriffe wir verwenden. Auch die Autoren der Studie betonen, dass die Situation der Muslime und ihre Haltung gegenüber Deutschland eher positiv sind. Darauf sollten wir den Blick richten und darauf aufbauen. Denn das sind Muslime aus Deutschland. Das sind also deutsche Muslime! Wir müssen eines klarstellen: „der Islam gehört zu Deutschland!“

 

RAMSA: Herr Vicente, wie schätzen Sie die ganze mediale Atmosphäre zu diesem Thema ein und welche Haltung erwarten Sie vom Innenminister einzunehmen?

 

Miguel Vicente: Also man muss sagen, dass nach den ersten etwas verkürzten Berichten in den Medien beziehungsweise in der Bild-Zeitung, sich die Berichterstattung insbesondere in den Printmedien sehr differenziert hat. Das ist schon einmal eine positive Entwicklung. Wenn ich mich an die Sarrazin-Debatte erinnere, war das viel schwieriger. Daher ist das wirklich schon eine gute Entwicklung. Was ich erwarte ist, zukünftig den Dialog mit den Muslimen, insbesondere mit ihren Organisationen zu suchen und dass wir davon wegkommen über die Muslime zu reden anstatt mit ihnen. Die gemeinsamen Fragen, die es gibt, gemeinsam anzugehen. Gemeinsame Anliegen können auch sein, extremistischen Entwicklungen bei Muslimen zu begegnen. Das ist auch im Interesse der Muslime, denn kaum jemand will diese Entwicklungen fördern. Das kann deshalb auch ein Grund für die Zusammenarbeit sein. Aber wir müssen erst einmal diese Themen gemeinsam identifizieren und das im Dialog und nicht indem die Einen über die Anderen reden.

 

Der Rat muslimischer Studierender und Akademiker bedankt sich herzlich für das Gespräch

Das Interview wurde geführt von Betül Genc.