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Meinung: Islam und Verschwörungstheorien sind nicht miteinander vereinbar!

02.05.2019

Meinung: Islam und Verschwörungstheorien sind nicht miteinander vereinbar!

Positionierung zu Verschwörungstheorien von Fabian Schmidmeier, Islamwissenschaftler und freier Journalist

In jedem Bekanntenkreis finden sich Menschen, die an „die große Verschwörung“ glauben, eine komplizierte Welt sehr einfach erklären und meinen „die Wahrheit“ erkannt zu haben. Hinter verschiedenen Ereignissen, zum Beispiel 9/11 oder die Aufstellung des IS stünden eigentlich Freimaurer, Zionisten, die Rothschilds, Georges Soros, Israel, Illuminaten oder am besten alle zusammen. Verschwörungstheorien, insbesondere die mit antisemitischen Grundlagen, sind en vogue und auch unter Muslimen weit verbreitet. Leider. Dabei verstoßen diese gegen fundamentale islamische Prinzipien.

Um was es hier geht und um was nicht

Wasser auf Mühlen jeglicher antisemitischer Verschwörungstheorien ist der Nahost-Konflikt, der inzwischen sehr religiös aufgeladen ist. Wie bei jedem gewaltsamen Konflikt gibt es auch hier kein „Schwarz und Weiß“ und in meinem Beitrag geht es nicht darum sachliche Kritik an vergangenen oder gegenwärtigen Regierungspolitiken, die mit dem Stichwort Israel in Verbindung gebracht werden (z.B. Politiken innerhalb der Armee, an Siedlungspolitiken in besetzten Gebieten…) zu diskreditieren. An was ich mich aber störe sind pauschale Abwertungen ganzer Glaubens- oder Volksgruppen á la „die Juden“ und antisemitische Theorien. In diesem Text geht es um irrationale Behauptungen bei denen eine Menschengruppe kollektiv als „das Böse schlechthin“ ausgemacht wird, und angeblich global wie eine gottähnliche Macht die Fäden zieht. Häufig wird nicht einmal der Versuch unternommen die eigene These zu belegen. Und genau hier kommen islamische Prinzipien ins Spiel von denen ich einige gewichtige beim Verbreiten von Verschwörungstheorien verletzt sehe. Daher möchte ich ein paar Beispiele aus Koran und Sunna bringen, die besagten Verschwörungstheorien und deren Verbreitung meiner Meinung nach entgegenstehen.

Stringente und strikte Beweisführung und Gerechtigkeit als fundamentale islamische Prinzipien

Im Koran finden sich verschiedene Beschreibungen von Tatbeständen, die nach historischen islamischen Rechtsnormen schwere Vergehen darstellen.

In Sure 24:2 wird beispielsweise der außereheliche Geschlechtsverkehr (zina) behandelt: Sie regelt eine äußerst strikte Beweisführung, um bei einem Urteil, welches Auswirkungen auf das soziale Leben der Beschuldigten haben kann, ein Fehlurteil zu vermeiden und Gerechtigkeit (ʿadāla) zu gewährleisten. Der außereheliche und vollständig vollzogene Geschlechtsverkehr muss von vier voneinander unabhängigen und glaubwürdig geltenden Zeugen gesehen worden sein. Es muss genauestens belegt werden, Beschuldigten wird ein Widerspruchsrecht eingeräumt. Auch wurden in der Rechtspraxis Ersatzstrafen (taʿzīr) als Alternative zu den drakonischen Körperstrafen in Erwägung gezogen, ḥudūd auch in anderen Bereichen meist vermieden.

Einer Falschaussage wird nach Sure 24:4 mit Bestrafung gedroht, das heißt, eine falsche Anschuldigung gilt als fast genauso schlimm wie das potentielle Vergehen selbst, ist also selbst als Verbrechen zu werten! Und sollte die Anschuldigung stimmen und nur drei Zeugen zur Aussage bereit sein, gilt es trotzdem als falsche Anschuldigung. Auch bei anderen Vergehen gibt es das Gebot äußerst strikter Beweisführung und das Verbot von Vorverurteilung. „Im Zweifel für den Angeklagten“ (in dubio pro reo) ist ein islamisches Rechtsprinzip. Ein Urteil „nach Hörensagen“ wird nicht akzeptiert. Kann etwas nicht eindeutig belegt werden, so ist es demnach besser zu schweigen!

Verleumdung als Kapitalverbrechen

Auch bei Gott selbst wiegt die falsche Anschuldigung besonders schwer: „Diejenigen, welche die große Lüge vorbrachten, sind eine Gruppe unter euch. Glaubt nicht, es sei ein Übel für euch; im Gegenteil, es ist euch zum Guten. Jedem von ihnen soll die Sünde, die er begangen hat; und der unter ihnen, der den Hauptanteil daran hatte, soll eine schwere Strafe erleiden.“ (24:11, Koran-Übersetzungen nach Muhammad Asad).

Auch bei den Verschwörungstheorien geht es um schwerwiegende Anschuldigungen: „Die Juden“, „die Zionisten“, „die Freimaurer“, … sollen, so die Theorien, für sämtliche Kriege und Krisen in der Welt, also für Tausende Morde weltweit verantwortlich sein. Für einen solchen Vorwurf wäre eine strikte Beweisführung notwendig, sie wird aber nie erbracht. Häufig dienen für eine Bestätigung des eigenen Weltbildes lediglich anonym und willkürlich zusammengeschnittene Youtube-Videos, Bücher europäischer und nichtmuslimischer rassistischer Antisemiten oder Bilder, auf denen nicht belegte Zitate irgendwelcher Politiker abgebildet werden. Zudem werden vermeintliche „Wahrheiten“ über „die Juden“ oder vermeintlich religiöse Grundsätze „von den Zionisten“ behauptet, ohne selbst auch nur ansatzweise über Basiswissen über das Judentum oder die vielschichtige Geschichte des Zionismus zu verfügen. Kann so etwas im Sinne des Islams und den erforderlichen zwingenden Beweisen für ein Urteil sein? Und vor allem: Kann so etwas im Namen des Islams geschehen?

Mutmaßungen, falsche Zeugenaussagen und üble Nachrede (ġība)

Kann etwas nicht belegt werden, dann handelt es sich um Mutmaßungen. Auch hier wird Gott im Koran deutlich: „O die ihr glaubt! vermeidet häufigen Argwohn, denn mancher Argwohn ist Sünde. Und belauert nicht und führt nicht üble Nachrede übereinander. Würde wohl einer von euch gerne das Fleisch seines toten Bruders essen? Sicherlich würdet ihr es verabscheuen. So fürchtet Allah. Wahrlich, Allah ist langmütig, barmherzig.“ (49:12, al-Ḥuǧurāt, „die Schutzräumlichkeiten“) Die „üble Nachrede“ mit einem Verzehr von Fleisch eines toten Bruders zu vergleichen zeugt von der Gewichtung und Verurteilung eines solchen Verhaltens.

Auch in Prophetenüberlieferungen (ḥadīṯ) wird die Verurteilung von Falschaussagen untermauert. So überliefert ʿAbd ar-Raḥmān ibn Abī Bakr: „Der Prophet (S) fragte: ‚Soll ich euch sagen, welches die allerschlimmsten Vergehen sind?‘ Dreimal fragte er das. Die Leute riefen: ‚Ja, o Gesandter Gottes!‘ Er sagte: ‚Die schlimmsten Vergehen sind es, Gott Teilhaber an seiner Göttlichkeit zuzugesellen und ungehorsam und widerspenstig gegenüber den Eltern zu sein!‘ Nach diesen Worten setzte er sich auf, nachdem er sich zuvor zurückgelehnt hatte, und rief: „Und macht ja keine falschen Zeugenaussagen!“ Diese Warnung wiederholte er immer und immer wieder, daß wir schon sagten: ‚Wenn er jetzt doch still sein würde!‘“[1](Saḥīḥ al-Buḫārī, Nr. 6919). Koran und Sunna geben einem eindeutig mit auf den Weg, dass für eine Verurteilung zwingende Beweise notwendig sind. Falschaussagen über mögliche Taten anderer, oder einfach nur Aussagen über nicht Beweisbares, stellen eine schwere Sünde dar. Trotzdem äußern zahlreiche Personen ständig derartige Verschwörungstheorien über ganze Religions-, Volks- oder andere Gruppen. Mit dazu unabsehbaren gefährlichen Folgen!

Jeder ist nur für seine eigenen Sünden verantwortlich

Wer von „den Juden“ in schlechter Weise spricht und ihnen kollektiv negative Eigenschaften zuspricht ist nicht nur eindeutig ein Antisemit, er widerspricht auch gegen das koranische Verbot von Sippenhaft. Sure 6:164 (al-ʾAnʿām, „das Vieh“) betont „Und keine Seele wirkt, es sei denn gegen sich selbst, und keine Lasttragende trägt die Last einer anderen“. Man darf also ganz prinzipiell gesprochen einen Menschen nicht für ein  mutmaßliches Vergehen von anderen verantwortlich machen. Davon abgesehen gelten Juden und Christen ganz eindeutig seit dem historischen islamischen Recht als „Angehörige des Buches“ (ahl al-kitāb), als Träger vorhergehender göttlicher Offenbarungen und und sind mit Muslimen besonders verbunden.

Völkisch-nationalistische Literatur aus Europa

 

Leider habe ich auch bereits zahlreiche deutsche Konvertiten sich antisemitisch und verschwörungstheoretisch äußernd in sozialen Medien wahrgenommen. In Buchhandlungen der Türkei, Ägyptens oder Tunesiens fand ich persönlich Bücher antisemitischer und rassistischer Autoren, wie beispielsweise „Der internationale Jude“ von Henry Ford, ein Buch, das Adolf Hitler nachweislich maßgeblich beeinflusst hat. Auch die schon lange eindeutig als Fälschung bewiesenen „Protokolle der Weisen von Zion“ oder Hitlers „Mein Kampf“ sind dort zu finden. Antisemitische Schriften fanden insbesondere während des Kolonialismus über europäische und nichtmuslimische Kolonialisten Eingang in die sog. „arabische Welt“. (Anm.: Dazu sei Prof. Dr. Christoph Herzog aus Bamberg empfohlen)

Die Theorien solcher Bücher führten im II. Weltkrieg zu einer Vernichtung von sechs Millionen jüdischen Menschenleben! Und es bleiben dieselben Theorien, auch wenn man das Wort „Jude“ jetzt durch „Zionist“ ersetzt und diesen einen vermeintlich „islamischen“ Tarnmantel verpasst. Im islamischen Recht gilt alles als verboten, was zu Schlechtem führt (sadd aḏ-ḏarā’iʿ). Die antijüdischen Weltverschwörungstheorien führten zum Völkermord.

Islamfeindliche Rechtspopulisten als Quellen der „Wahrheit“ für Muslime?

Und auch moderne Rechtsextremisten und Rechtspopulisten dienen als Kronzeugen für so manchen Muslim, beispielsweise Christoph Hörstel oder Michael Vogt mit „Querdenken.tv“ und andere „alternative Medien“. Dass sich gerade diese Medien in rechtsradikalen Milieus bewegen, die ebenfalls gegen Muslime hetzen, wird dann mal eben vergessen. Bei Rassismus ist der Islam ebenfalls ziemlich klar. Wer meint andere in rassistischer Weise abwerten zu können, der sollte sich immer im Hinterkopf behalten, dass es gerade Muḥammad (ṣ) war, der einen  aus Abessinien stammenden Mekkaner, der einst ein Sklave war, zum ersten Gebetsrufer der islamischen Geschichte bestimmt hat!

Fazit: Verschwörungstheorien und Antisemitismus sind gefährlich und anti-islamisch

Verschwörungstheorien markieren eine ganze Gruppe als Feind. Wenn erst einmal eine Volks- oder Religionsgruppe auf eine solche Art und Weise diffamiert wird, dann ist Gewalt nicht weit. Eine Minderheit kann sich aufgrund dieser Verschwörungstheorien ermutigt fühlen, sich „gegen die Weltverschwörung zu wehren“! Die Theorien an sich und die Verbreitung von nicht belegbaren aber folgeschweren Urteilen widersprechen fundamentalen Prinzipien des Islams, wie oben dargestellt. Verurteilungen ohne belastbare und zwingende Beweise sind eindeutig verboten (ḥarām). Anonyme oder willkürlich zusammengeschnittene Youtubevideos sind keine authentischen Quellen, auch keine Bilder mit angeblichen Zitaten. Anstatt sich solch einen Schund reinzuziehen sollten Muslime sich lieber profunde Kenntnisse in Arabisch aneignen und GelehrtInnen studieren. Dann werden sie auch schneller merken, wie falsch diese einfachen und gefährlichen „Wahrheiten“ sind.

Wenn Muslime „das Gebieten des Rechten und Verbieten dessen, was Unrecht ist“ (al-ʾamru bi-l-maʿrūf wa-n-nahy ʿan al-munkar) wirklich ernstnehmen wollen, dann dürfen sie Unrecht nicht fördern, sondern müssen dagegen vorgehen. Verschwörungstheorien und deren Verbreitung sind solches Unrecht. Daher ist es unsere Pflicht uns gegen diese und Antisemitismus zu engagieren!

Wa-Allāhu aʿlam – Und Gott weiß es besser

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Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine Meinungsäußerung und den Versuch einer innermuslimischen Positionierung des Islamwissenschaftlers und freien Journalisten Fabian Schmidmeier. Die Besonderheit bei diesem Beitrag liegt darin, dass er sich an ein muslimisches Publikum richtet. Weitere Arbeiten des Autors: https://derorient.com/